Sonntag, 13. Januar 2019

„Was führt und hält Menschen zusammen“? – Mosaik einer Woche Jerusalem


Man kann sich seine Familie nicht aussuchen – aber man kann sie trotzdem lieben“, behauptet die Buchautorin Barbara Kunrath in einem Essay über das vor ihrem eigenen biographischen Hintergrund entstandene Buch „Schwestern bleiben wir immer“. [1]
Sie beschreibt in wenigen Zeilen das faszinierende Zusammenspiel von geschwisterlichem guten oder auch verletzendem Streit sowie der unerklärlichen Verbundenheit, die sich aus der familiären Verbundenheit ergibt. Die Familie kann man sich nicht aussuchen, man kann sie meiden oder einen engen Kontakt suchen. Eltern bleiben aber immer Eltern, Geschwister kann man aus der eigenen Biographie nicht auslöschen. Alle anderen Konstanten im Leben von der Wahl des Lebenspartners bzw. der Lebenspartnerin bis hin zu den Nachbarn liegen dagegen mal mehr oder minder in unseren eigenen Händen.

„Was führt und hält Menschen zusammen?“, mit dieser Frage bin ich durch die erste Woche meines Aufenthaltes in der multikulturellen und –religiösen Stadt Jerusalem gelaufen und habe möglichst vielen Menschen diese Frage gestellt oder ihren Ausführungen gelauscht.

Suk von Jerusalem - Der Preis ist Verhandlungssache
Gleich am ersten Tag spricht mich in der Via Dolorosa Magid an, ein Geschäftsmann wie es im Buche steht. Ich habe die starke Vermutung, dass er mir ein in China hergestelltes Jerusalemkreuz als örtliche Produktion und zu einem überteuerten Preiss verkauft, aber er verrät mir auch, dass für ihn die Religionsgrenzen und die Volkszugehörigkeiten keine Rolle spielen. Für ihn als Kaufmann ist es sogar sehr wichtig, dass man Frieden in der Stadt hält. Klar, sonst würden die Touristen fernbleiben, die seine Existenzgrundlage sind. Das gemeinsame Geschäftsinteresse verbindet ihn mit den anderen Bewohnern der Altstadt. Alles andere rückt in den Hintergrund. In das Bild passt auch die Flexibilität in Bezug auf seinen Namen. Als er erfährt, dass ich aus Deutschland stamme spricht er mich mit bayrischen Akzent an und sagt, dass ich ihn auch Michael nennen könne. Auf die Frage wie er denn richtig hieße, nennt er mir Magid als seinen Namen. Als er mir seine Visitenkarte zum Schluss überreicht, lese ich „Mikes Store“. Namen sind Schall und Rauch, wenn es ums Geld verdienen geht. Politik oder konfliktreiche Religionsspannungen würden da nur stören.

Künstler Omar fühlt sich durch Kunst mit anderen verbunden
In der zweiten Reihe des Suk treffe ich an einem kleinen Schmucklädchen Omar und seinen Vater, die vorbeigehenden Besuchern Jerusalems gerne den Weg zur nahen Terrasse über den Dächern Jerusalems zeigen. Nach einem beeindruckenden Panoramablick kehre ich zurück und bedanke mich für den Tipp und lasse mir gerne seine Auslage mit von ihm und seinen Vater produzierten Schmuck zeigen. Meine Kauflaune ist für heute gestillt und das sage ich Omar auch so, was er erstaunlicherweise sehr freundlich akzeptiert. Ich stelle ihn aber meine Frage, worauf er mir einen (Salbei)Tee und einen Platz anbietet und mir erzählt, dass er Freunde aus allen Bevölkerungsschichten Jerusalems hat. Die Gemeinschaft mit Menschen gleicher Gesinnung sei ihm viel wichtiger als alles politische und sein besonderes Interesse als Künstler sei die Kunst.

Hier in Jerusalem an der Bezaleel Academy of Arts and Design (einer staatliche Kunst- und Designhochschule mit gut 2000 Studierenden) spielten z.B. die Unterschiede keine Rolle. Ich bin neugierig auf diese Ausbildungsstätte und entdecke im Grußwort ihres Rektors Dr. Yuval Karniel eine Passage, die den Anspruch betont, nicht im Elfenbeinturm der Kunst zu verharren, sondern durch Kunst auch ein Teil der israelischen Gesellschaft zu sein: Bezalel is the largest accelerator within Israeli society for creativity and innovation, and for achieving harmony, referential integrity, preciseness, and quality, based on hard work, perseverance and ethics. … Bezalel is not interested in withdrawing into an ivory tower but takes part in Israeli society. Creativity stems from within, and from there it is possible to burst into our vast world“ [2].

Genauso wie Kunst verbinden kann, so auch andere gemeinsame Interessen stelle ich in den folgenden Tagen fest. Nach meiner Herkunft gefragt gebe ich meist meinen Wohnort Witten in Deutschland in der Nähe von Dortmund an. Nicht selten schließt sich ein Gespräch über die hervorragende Fußballmannschaft des BvB an. Gemeinsame Interessen und Themen wie der Sport verbinden Menschen und lassen sie ins Gespräch kommen. Was aber, wenn man nicht die gleich Sprache spricht?


Bei Raphats Kaffee fühle ich mich wie zu Hause 
Am Löwentor im muslimischen Viertel der Altstadt treffe ich auf Raphat, der vor seinem kleinen Laden auf einem Feuerchen arabischen Kaffee in einer Džezve zubereitet. Ich liebe diese ursprünglichste Art der Kaffeezubereitung und den Geschmack des frisch aufgekochten Kaffees, die ich von meinen in Kroatien lebenden Schwestern kenne. Ich bin der einzige Gast und so hat Raphat Zeit, mit mir zu kommunizieren. Ich wähle bewusst dieses Wort, denn Raphat kann nur einige englische Wörter. Irgendwie gelingt es aber trotzdem zu erfahren, dass dies sein und seines ein paar Meter weiter frischen Granatapfelsaft auspressenden Bruders Haus sei, in dem auch ihre Eltern und ihre Kinder wohnen. Ich verrate ihm, dass ich aus „Germany“ stamme und wie so manches Mal höre ich darauf die Antwort „Germany good“. Ich möchte gar nicht wissen, was ihm und anderen dabei so an Gedanken durch den Kopf geht und was er aus Gegenwart oder Vergangenheit denn nun gut findet. Mich interessiert vielmehr die Frage, ob er Kontakt zu Menschen aus anderen Vierteln der Stadt hat. Zum Glück kommt während des Kaffeekochens sein Neffe vorbei, der ein paar mehr Wörter Englisch kann. Es habe wenig bis keinen Kontakt zu Menschen anderer Viertel. Hier sei man eher für sich. Raphat bereitet zwei Kaffee vor, einen für sich und mich. Ich bedanke mich anständig auf arabisch mit dem Dank šukran, was Raphat ein anerkennendes Lächeln auf sein Gesicht zaubert. Gesten sagen manchmal mehr als 1000 Worte. Was führt Menschen zusammen? Manchmal ist es die gemeinsame Freude an einem guten Kaffee, denn von den zwei zubereiteten Kaffee trinkt er den zweiten mit mir vor dem Feuer sitzend gleich mit.

Frühstücksgemeinschaft Christian, Pertti, Matti, Paavo (v.L)
Im Laufe der Woche folgen einige Begegnungen. Am Frühstückstisch erzählen mir Matti, Pertti und Paavo, die aus Finnland stammen, aber bereits seit Jahrzehnten in Kanada leben, dass in ihrer pfingstlerischen Gemeinde lange Zeit die ethnische Zusammengehörigkeit der Emigranten und die spirituelle Grunderfahrung des Wirken des Heiligen Geistes sehr wichtig für das Zusammenleben war. Erst mit der jüngeren Generation, die ihre Gottesdienste lieber auf Englisch als auf Finnisch abhalten, ändert sich dieses. Nun muss die Gemeinde eine Mitte finden, die die Generationen zusammenhält. Im Moment ist es ein Abendmahlsgottesdienste, der zusammen gefeiert wird. Hier gibt es jeweils eine Predigt auf Finnisch und eine auf Englisch.
Evangelische Erlöserkirche

Das Verbindende von Sprache und Herkunft, das die der drei finnischen Auswanderer mir gegenüber erwähnen, kann ich am Sonntagmorgen im deutschsprachigen Gottesdienst der evangelischen Erlöserkirche in der Jerusalemer Altstadt an Leib, Geist und Seele spüren. Die vertraute Liturgie, die Choräle und die von Pfarrerin Gabriele Zander ausgeführte Predigt, sind wie eine gut bekannte Insel inmitten der fremden Kultur. In der Muttersprache betet es sich doch noch immer am vertrautesten.

An einem Nachmittag hatte ich auch die Möglichkeit, einem Vortrag einer Dozentin des Hebrew Union Colleg, einer Ausbildungsstätte für Rabbin*innen und Kantor*innen zu folgen. Rabbi Dahlia Marx sprach vor den anwesenden Studierenden der Studienprogramme „Studium in Israel“ sowie der „Dormitio“ und vor eigenen Studierenden über Herausforderungen und Chancen des Interreligiösen Dialoges. Besonders gut gefiel mir dabei die Verwendung des Begriffes „Interfaith dialogue“, weil er auf die Begegnung im Glauben und weniger auf die formale Dimension der Religion verweist, der im Deutschen beim Begriff der Religion mitschwingt. Noch schöner fände ich übrigens persönlich den Begriff „interfacial“, weil er mit face, dem Gesicht, auf einen Dialog von Angesicht zu Angesicht verweist, geht mir durch den Kopf. Ich bin gar nicht sicher, ob dies im englischen Sinn macht. Interface kenne ich bisher nur als Schnittstelle eines Computers. Vielleicht kann mir das ja jemand mit besseren Englischkenntnissen weiterhelfen.

Rabbi Marx erwähnt in ihren Ausführungen einige Grundlagen für gelingenden Dialog auch über die Religionsgemeinschaften hinaus: Der Dialog sollte vor allem nicht instrumentalisiert werden. So teilte sie aus ihrer Erfahrung die Beobachtung mit, dass Christen von Juden häufig etwas über Jesus erfahren wollten, um Jesus besser als Jude verstehen zu wollen. Sie als Jüdin meinte, dass Juden eher in einen Dialog wegen der Begegnung treten würden. Auch spiele Theologie häufig weniger für sie eine Rolle. Ein Jude zu sein, hänge bisweilen mehr mit Identität als mit Religiosität zusammen.
Jeder Gesprächspartner sollte offen und ohne Vorbehalt und auch ohne Ziel ins Gespräch eintreten. Auf Bekehrung sollte man verzichten, aber auch auf Vermischung und Beliebigkeit. Wichtiger als Ergebnisse sei ohnehin der Dialog an für sich, weil er Ängste und Vorurteile abbaut. Einer der jüdischen Rabbinnenschüler wurde auch nach seinen Erfahrungen im Gespräch gefragt. Seine Aussage „it depends“, „Es kommt darauf an“, fasst für mich die Möglichkeit einer bereichernden Begegnung gut zusammen.
Begegnung lebt neben einer offenen Grundeinstellung halt auch immer von den Rahmenbedingungen oder gemeinsamen Anknüpfungspunkten. Das können neben den schönen Dingen des Lebens auch grenzüberschreitende Leiderfahrungen sein und der Sinn und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden sein. In den nächsten Tagen und Wochen werde ich einige Begegnungen mit Menschen haben, die aus anderen Gründen oder Motivation zusammenarbeiten.
Eine für mich inspirierende Erfahrung in diese Richtung mache ich beim Besuch der Synagoge Kehilet Har-El gleich in der Nachbarschaft meines Wohnsitzes. Die Gastfreundschaft der kleinen Gemeinschaft, in der ich nicht nach Glauben oder theologischer Meinung gefragt wurde, erlebe ich erfrischend. Mit einem Apfelpunsch stoße ich gerne nach dem Gottesdienst zu Beginn des Shabbat mit einem Shabbat Schalom auf den 61. Geburtstag an, der gerade an diesem Freitagabend gefeiert. Hier erlebe ich etwas Smalltalk mit anderen Besuchern und verzichte darauf, meine Frage zu stellen, weil sie sich von selbst beantwortet. Die Menschen lieben den gemeinsamen Gesang, die Musik, ihre Gemeinschaft. Begegnung kann manchmal besonders schön sein, wenn man Menschen Freude aneinander haben. Das spürt man bei den Mitgliedern dieser Synagoge.

Das lässt mich in Gedanke zu einem Grund kommen, der Menschen zu allen Zeiten zusammenführt: Sympathie und Liebe sind sicherlich der stärkste Antrieb, den man sich dafür vorstellen kann, dass Menschen zueinander finden und miteinander auf dem Weg bleiben. Die verschiedenen Formen der Liebe wurden über die Jahrhunderte vielfach reflektiert: Die freundschaftliche Philialiebe, die körperliche und sinnliche Erosliebe und die selbstlose Agapeliebe sind sicherlich die einer der Hauptgründe, dass Menschen aufeinander zugehen.Hier in Jerusalem fällt mir ein Wort Jesu ein, die diese Liebe in ihrer letzten Konsequenz zeigt: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (Johannesevangelium 15, 13). Zum Anfang muss man aber ja nicht so weit gehen.

Guide der Umweltschutzorganisation ecopeace 


Heute stand dann noch eine Begegnung mit einem Umweltschutzaktivisten von EcoPeace Middle East, einer Organisation, in der Umweltaktivisten aus Jordanien, Palästina und Israel grenzüberschreitend zusammenarbeiten, auf dem Programm. Die Mitarbeitenden von ecopeace haben sich zum Ziele gesetzt, das Ökossystem zwischen See Genezareth über des Jordan bis hin zum Toten Meer zu retten. Seit Jahren wird von allen Anrainern zu viel Wasser vor dem Einfluss in den Jordan durch Staudämme abgeschöpft. Darüber hinaus werden dreckige Abwässer in den Jordan geleitet. Nach Jahrzehnten verändert sich die Landschaft, die doch gleichzeitig allen drei örtlich präsenten Weltreligionen heilig ist. Wir besuchen ein ehemaliges Strandbad am Toten Meer, von dem man das Wasser nur noch weit entfernt ahnen kann. Wir besichtigen die „braune Brühe“ des zur Zeit sogar erfreulich viel Wasser führenden Jordans (es ist ja Winter,- und sogar seit fünf Jahren wieder einmal ein regenreicher) an der Taufstelle, an der auch Jesus von Johannes den Täufer getauft worden sein soll.
Für den Erhalt arbeiten viele hundert und tausende Mitarbeitende über alle Grenzen hinaus zusammen und betreiben Überzeugungsarbeit gegen wirtschaftliche Interessen bevor es zu spät. Das Bewusstsein für die Schönheit der Natur führt sie zusammen. Ein wahrer Lichtblick in der Region, in der man sich ja bevor man über Jerusalem und den Besitz des Landes, wenigstens mal bei dem gemeinsam auf den Weg machen kann, was für alle lebensnotwendig ist: Sauberes Wasser, dass Grundlage für Leben und Landwirtschaft auf beiden Seiten ist. „Selbst sicherheitspolitisch hat Israel Interesse, dass es in Jordanien zu einer guten Wasserversorgung kommt und nicht wie in Syrien Unzufriedenheit zu Unruhen oder sogar einem Bürgerkrieg führt", war seine These. Wer mehr darüber wissen möchte findet hier ein Video mit einem Interview mit Gideon Bromberg, der die Vision von ecopeace erklärt.

 Klagemauer
Grabeskirche


Und wie ist es mit der Religion, frage ich mich am Ende meiner Woche? Führt sie eher zusammen oder trennt sie die Menschen? Hier ist sicher zum einen grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Religion im spirituellem Sinne oder im dogmatischen Sinne.

Felsendom
Je nachdem, welcher Zugang gewählt wird, wird auch die Frage beantwortet, ob Religion zusammenführen kann, vermute ich. Schaue ich auf das einzelne Dogma, so trennt mich schon im Christentum manches von anderen Konfessionen. Mit der Marienverehrung kann ich persönlich bei aller Hochachtung der Mutter Jesu gegenüber wenig anfangen. Würde ich beim Dialog mit katholischen Christen immer nur auf dieses Thema kommen, so wäre man sich auf Dauer der Verschiedenheit und Trennung sehr bewusst. Beim Gottesverständnis eines gnädigen Gottes, in der Nachfolge Jesu und im Bewusstsein des Wirkens des Heiligen Geistes treffen wir uns dagegen und können zusammen unsere Gemeinsamkeiten feiern.
Pilger auf dem Weg zum Tempelberg 
Hier in Jerusalem sind die Pilger auf jeden Fall in gewisser Weise miteinander verbunden.
Es ist aber auch nicht schwer, in der Religion Trennendes zu finden. Wo kann aber Religion verbinden? Ich meine dort, wo Menschen im anderen den Mitmenschen als Geschöpf Gottes erkennen. Egal ob man sich die Welt in sieben Tagen geschaffen denkt oder als Evolutionsprozess: Wir stammen alle von den gleichen Eltern ab und sind eine Menschheitsfamilie. „Man kann sich seine Familie nicht aussuchen – aber man kann sie trotzdem lieben“, vielleicht gilt das ja nicht nur für die Kleinstfamilie, sondern auch für die Menschheitsfamilie.

BCU, 13. Januar 2019




[1] „Schwestern bleiben wir immer“, Barbara Kunrath, Ullstein-Buchverlag, 2016,
siehe auch https://www.resonanzboden.com/herzenssache/barbara-kunrath-schwestern-familie-lieben/

[2] Den Text im ganzen siehe: http://www.bezalel.ac.il/en/about/rector/



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Gemeinde und Kirche in einer interkulturellen Welt - Reflexion ekklesiologischer Dynamiken im Rahmen eines Studiensemesters in Jerusalem

Gemeinde und Kirche in einer interkulturellen Welt. Reflexion ekklesiologischer Dynamiken im Rahmen eines Studiensemesters in Jerusalem Pfar...