Sonntag, 27. Januar 2019

Weltweite Gebetswoche für die Einheit der Christen


In der dritten Woche meines Aufenthaltes fand die weltweite Gebetswoche für die Einheit der Christen statt. Dies war für mich eine gute Gelegenheit, in kürzester Zeit möglichst viele verschiedenen Konfessionen und Kirchen in der Jerusalemer Altstadt kennen zu lernen und zu beobachten, wie das Zusammenleben der Christenheit in Jerusalem funktioniert.
Die Grabeskirche ist ein verbindender Ort für alle Christen

Gespräche nach dem anglikanischen Gottesdienst


Dichte Atmosphäre in der armenische St. Jameskirche

Lateinische Gesänge / Kath. San Salvadore

Abendmahlssaal / Andacht mit den Benedektinern

Der Kreuzgang der Ev. Erlöserkirche führt zum
Empfang der Gemeinde mit Brot und Wein


Gebetswochenabschluß in der Melkitischen Kirche









Die meisten Gottesdienste dieser Woche sind sehr traditionell gehalten, was mir hier sehr gut gefällt. So lernt man den Ritus und die Spiritualität der Glaubensgeschwister kennen. Vieles ist für mich fremd wie z.B. die Feier in der dunklen und sehr reich ausgeschmückten armenischen St. James-Kirche, die dem Heiligen Jakobus geweiht ist. Die griechisch-orthodoxe Kirche zelebriert in der 
Grabeskirche an der Golgathastätte quasi für sich unter Beobachtung der Gäste den Gottesdienst, hier besteht keine Beteiligungsmöglichkeit. Die 
anglikanische Kirche feiert ihre Gottesdienste sehr hochliturgisch mit Weihrauch. Aber auch in der Ev. Erlöserkirche wirkt es beeindruckend, wenn die versammelte Theologenschaft der deutsch-, arabisch- und englischsprachigen lutherischen Gemeinden, was immerhin ein gutes Dutzend umfasst, im Talar einzieht. Die Benedektiner der Dormitio Abbey halten im Abendmahlssaal eine eher schlichte Andacht.
Bei den Kopten wurde sehr orientalisch gesungen. 
Bei den Äthopier mussten die Schuhe ausgezogen werden.
Die Melkiten als katholische Rituskirche feiern ihren Gottesdienst mit der byzantinischen Liturgie. 

Man merkt, dass Jerusalem auch eine Stadt ist, in der repräsentiert wird. Von den jeweils 200 Besuchern der Gottesdienste kommen gefühlt die Hälfte in Amtstracht, mit Colarhemd und die Nonnen und Mönche natürlich im Habit, sei es Tracht oder Kutte. Das macht schon alles was her. Umso schöner ist es dann nach sehr würdevollen Gottesdiensten einander auch bei den anschließenden Empfängen persönlich und in gelöster Atmosphäre zu begegnen. Ohne diese Begegnung würde etwas fehlen. Ich habe den Eindruck, man kennt sich hier. Es wird gelacht, geredet und einander kennen gelernt. Für mich eine wahres Paradies für neue oder vertiefende Begegnungen zu 
Beginn meines 
Studiensemesters.
Ich finde es ermutigend, welche gottesdienstliche und menschliche Vielfalt ich erleben darf. Diese Vielfalt ist so gelebt, wie ich es hier vorfinde, kein Gegensatz zur Einheit, sondern im Gegenteil ein wahrer Schatz. 
Sie spiegelt die Vielfalt der Menschheit und des göttlichen Wesens wieder. Jerusalem ist berühmt dafür, dass sich die die Grabeskirche teilenden Konfessionen bisweilen heftig um scheinbare Nebensächlichkeiten streiten können. Das ist sicher auch so. Diese Gebetswoche zeigt mir aber auch das andere Gesicht der Christenheit in dieser Stadt: Hier wird bei aller offensichtlichen liturgischen Verschiedenheit zusammen gebetet, gefeiert und gelebt.

Die Gebetswoche findet in dieser Form schon seit Jahrzehnten so statt, teilt mir ein Gemeindeglied der Ev. Erlöserkirche mit, das seit über 40 Jahren in Jerusalem lebt. Der evangelische Probst, Wolfgang Schmidt, verrät mir, dass es ein Freundeskreis der Ökumene ist, der sich auf einer informellen und freiwilligen Basis mehrmals im Jahr trifft. Wieder einmal kann ich sehen, wie enorm wichtig persönliche Begegnungen sind. Hinzu kommt aber in der Gebetswoche ein anderes Element: Gute Gewohnheiten und verlässliche Strukturen. Zwischen 150 und 200 Personen kommen jeweils an acht Abenden zusammen, um gemeinsam zu beten. Jeder Gottesdienst wird von einer Konfessionsfamilie vorbereitet, beteiligt sind dann aber auch bei Lesungen, Gebeten und Segnungen, Beteiligte aus anderen Kirchen, Liturgiker wie Laien. Im Normalfall ist dies bei der Fülle von eigentlich zu treffenden Absprachen ein sehr zeitaufwändiger Vorgang. Weil es aber eine bewährte und bekannte Form gibt, geschieht manches dann auch einfach auf Zuruf und ohne viel Vorbereitung. So wird der Segen in manchen Gottesdiensten gleich mehrmals und in verschiedenen Sprachen von den gerade an diesen Tag anwesenden höchsten Würdeträgern gesprochen. Auch sonst werden die Geschwister der anderen Konfessionsfamilien schon mal gerne mit in die Gottesdienstgestaltung einbezogen, so beim Sprenkeln mit Wasser zur Tauferinnerung im katholischen Gottesdienst, was manchen, die dies aus ihrer Tradition nicht kennen, spürbar Freude bereitet.

Thematisch ging es bei der Bibelwoche, die von indonesischen Christen vorbereitet wurde, um das Thema Gerechtigkeit. „Der Gerechtigkeit und nur der Gerechtigkeit sollst du nachjagen“, ist der Leitbibelvers aus 5. Mose 16, 20. Vielleicht ist das auch eine gute Grundlage für Einheit, dass man über Themen redet, die verbinden und sich für die Gerechtigkeit einsetzt, nach der es sich immer zu streben lohnt.

Die Bischöfe und Repräsentanten aus der Nachbarschaft
überbringen Weihnachtsgrüße an den armenischen Patriarchen
Ein sich durchziehendes Element der meisten Gottesdienste ist der Friedensgruß "Gottes Friede sei mit Dir", der meist kurz vor dem Segen den umherstehende weiter gegeben wird. Dies scheint mir ein wesentliches Element zu sein: (Gottes) Frieden, der über alle Vernunft und ohne Grund einander zugesprochen wird, kann vielleicht wirklich Frieden stiften. Worte haben gestaltende Macht. Wer sich Frieden wünscht und den Frieden zugesprochen bekommt, der wird in diesem Sinne zum Frieden hin verändert und geführt. 

In diesem Sinne wünsche ich am Ende der dritten Woche meines Studienaufenthaltes, die natürlich noch vieles anderes beinhaltet hat,
allen Lesenden Schalom, Salam, Friede sei mir Dir!
Dein und Euer Christian
BCU, 27.01.2019 (Nebenbei der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust)



Sonntag, 20. Januar 2019

„Wie komme ich der Wirklichkeit auf die Schliche?“


Thematisch hat mich in der zweiten Woche meines Aufenthaltes interessanterweise gleich bei mehreren Begegnungen vor Ort ein Thema beschäftigt. Hier meine gesammelten Gedanken:

„Wie komme ich der Wirklichkeit auf die Schliche?“ – Oder: „Über den sorgsamen Umgang mit Texten, Fakten und Berichten“
Es liegt in der Natur des Menschen, dass er sich aus Geschichte und Gegenwart sein eigenes Bild von der Wirklichkeit und vom Leben konstruiert. Das ist ein ganz normaler Vorgang und dient dem eigenen Verstehen und der eigenen Vergewisserung. Die Herausforderung dabei ist, dass es nicht zu einem Zerrbild kommt. Vieles im Leben ist vielschichtig und lohnt sich auch differenziert zu sehen, was mir drei Begegnungen in der vergangenen Woche mit Menschen aus den Bereichen Archäologie, jüdischer Lehre und Journalismus vor Augen gemalt haben.

Das Heilige Land und die Archäologie – Vortragsabend im Rahmen der Goerres Lecture in der Benediktinerabtei Dormitio

Dr. Georg Röwekamp

Ja, ich wandle auf den Spuren Jesu. Aber: Das Land und die Stätten haben sich über zwei Jahrtausende verändert. Beim Versuch der Rekonstruktion wurde ganz sicher auch vieles konstruiert.
Im Vortrag „The Invention of the Holy Land in Early Christianity“ (Die Erfindung des Heiligen Landes in der frühen Christenheit) skizierte Dr. Georg Röwekamp, Leiter des Jerusalembüros des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande, die Wiederentdeckung der biblischen Orte im 4. Jahrhundert wie sie der Kirchengeschichtler Eusebius in seinen kirchenhistorischen Schriften oder die Pilgerin Egeria in ihrem Reisetagebuch Itinerarium Egeriae beschreiben.Die Stätten waren in Vergessenheit geraten oder waren sogar bewusst wie z.B. im Fall des Grabes Jesu durch die Römer mit einem Venustempel überbaut worden (in diesem Fall laut Überlieferung, um die frühe Verehrung des Ortes der Beisetzung Jesu seit dem 1. Jahrhundert zu unterbinden). Insbesondere mit Helena, der gottesfürchtigen Mutter des Kaisers Konstantin, setzte eine Zeit des neuen Bewusstwerdens der Bedeutsamkeit der biblischen Stätten für den christlichen Glauben ein. Seit einer Pilgerreise Helenas nach Palästina im Jahr 326 n. Chr. wurden zunehmend diese Stätten wieder aufgefunden und teils mit kaiserlicher Unterstützung, teils durch Spenden gottesfürchtiger Christen mit Kirchen umbaut. Das Pilgerwesen nahm zu.
Die sich weiterentwickelnde Geschichte und die Transformation der Stätten führte über die Jahrhunderte zur Veränderung. Wer heute Jerusalem besucht, findet eine Stadt vor, die teilweise 14 Meter über dem Straßenniveau zur Zeit Jesu lag. Die heutigen Stadtmauern gehen auf den osmanischen Herrscher Süleymann den Prächtigen im 16. Jahrhundert zurück. Jerusalem ist die Stadt, in der Jesus predigte, und es ist doch eine so andere Stadt als zu seiner Zeit.
Am Beispiel der Grabeskirche, die heute in der Altstadt liegt, wird mir deutlich, wie sehr dabei in das Gelände vor Ort eingegriffen wurde. Die der Überlieferung nach letzte Ruhestätte Jesu und somit der Ort seiner Auferstehung lag ursprünglich außerhalb der Stadtmauern. Über die Jahrhunderte wurde das Gelände in die Stadt einbezogen, bebaut und wieder zerstört und wieder bebaut. Dabei wurden Felsen abgetragen, damit der Kirchbau erfolgen konnte. Auch bei dem Neubau der Brotvermehrungskirche in Tabgah am See Genezareth Anfang der 80er Jahre  wurde beim Versetzen des verehrten Steines, auf dem die Brote und die Fische gelegen haben sollen, festgestellt, dass dieser bereits in früheren Zeiten versetzt worden war. Viele Beispiele ließen sich anfügen.
Um viele dieser Stätten ranken sich Mythen. Auch wenn uns mit Eusebius und Egerias Schriften sehr alte Berichte vorliegen, ist die Historizität mit Vorsicht zu genießen. Trotzdem üben auch diese Orte einen faszinierenden Reiz aus. Warum? Die Heiligkeit und Verehrung dieser Stätten wuchs zumeist erst mit der Zeit. Durch die Überlieferung, Identifizierung und Monumentalisierung, durch die jahrhundertelange Praxis des Gebetes und des ausgeübten Kultes wurden diese Stätten aber trotzdem zu dem, was sie heute sind: Heilige Orte. Vieles an der Heiligkeit im Heiligen Land ist aber auch nachweislich von Menschen konstruiert worden. Als Reiseführer, der er auch ist, bedauert Dr. Röwekamp das bisweilen, weil die damit verbundenen Geschichten häufig so fantastisch sind, dass man sie gut erzählen könnte. Worauf eine Zuhörerin mit trockenem Humor in den Raum wirft: „Never spoil a good story with facts“ (Ruiniere niemals eine gute Geschichte mit Fakten). Was breites Gelächter im Raum erntet. Der Referent lacht mit.
Mir geht dabei durch den Kopf: Das Christentum scheint ja die ersten drei Jahrhunderte auch ganz gut ohne diesen Rahmen und den Mythos überlebt zu haben. Was hat es in dieser Zeit ausgemacht? Meiner Meinung nach die Lehre vom Reich Gottes, in dem alle Menschen gleich sind, und die hoffnungsmachende gute Botschaft von der Auferstehung Jesu von den Toten, der aller Sünde und allem Tod die Macht nimmt. Dennoch kann auch ich mich dem Reiz der Stätten nicht entziehen. Sie machen mir bewusst, dass ich Teil eines größeren Geschehens bin, dass sich über die Jahrhunderte bis heute fortsetzt.

Die Rabbinen und die Lesarten der Tora – Besuch beim Schechter Institute of Jewish Studies
Oded Peles
Die rabbinische Tradition der Toraauslegung (die im christlichen Bereich als fünf Bücher Mose bezeichnet werden) hat mich schon während meines Studiums begeistert. Statt eines Absolutheitsanspruches werden in der rabbinischen Tradition verschiedene Lesarten der Tora nebeneinander gestellt (Rabbi Hillel sagt…, Rabbi Schammai sagt…). Vor diesem Hintergrund bekommen Jesu Worte „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist, ich aber sage Euch…“ eine ganz andere Bedeutung. Es ist halt keine Antithese oder sogar Aufhebung der Schrift, die der Rabbi Jesus als Lehre äußert, sondern seine Auslegung und Interpretation. Richtig übersetzt müsste es also heißen: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist UND Ich sage Euch nun, was ich darüber denke … (oder mit anderen Worten: Ich teile Euch meine Lesart mit).
In diese Art und Weise der Rabbinischen Lehre führt die Teilnehmende einer gemeinsamen Exkursion von Studium in Israel und der Dormitio Jerusalem ins Schechter Institute of Jewish Studies Rabbi Tamar Kadari ein: „„Alles“ ist in der Tora zu finden, man muss nur tüchtig graben, es immer wieder umdrehen“ ist ihre Grundthese.
Der sprachsensible Umgang mit Worten, das Lesen zwischen den Zeilen, mit dem sie einige Verse der Tora und ihre Auslegung durch Rabbinen vorstellt ist sehr behutsam. Auch hier wird Wirklichkeit konstruiert und gemeinsam über Generationen um ein Verständnis gerungen, bei dem es nicht um Wahrheit an für sich geht, sondern darum, eine Relevanz der heiligen Schriften für das eigene Leben zu gewinnen.
Was so ein offener Umgang mit einem Menschen macht, darüber berichtet Oded Peles, seines Zeichens u.a. Kantor im synagogischen Kontext, der in einem engen orthodoxen Umfeld aufgewachsen ist und durch verschiedene biographische Entwicklungen zu einer Weite im Glauben gekommen ist. „Worlds can be bridged (Welten können mit Brücken verbunden werden), ist eine seiner Thesen. Dazu müssen sich Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnen, egal welcher Herkunft und Religion. In der Begegnung liegt der Weg zu einem Miteiander in Frieden.
Als er von der Zions-Synagoge berichtet, einer „post-denominational synagogue“ (einer Synagoge, die sich bewusst nicht einem der Zweige des Judentums zuordnen möchte), die dies praktiziert, werde ich hellhörig. Das muss ich mir anschauen.

Brücken bauen in der Synagoge Kehilat Zion

Für mich bewegend ist dann der Besuch der Synagoge Kehilat Zion im Stadtteil Baka. Wir, das heißt der inzwischen zweite eingetroffene Pfarrer im Studiensemester und ich,  treffen uns mit Oded Peles um kurz vor fünf Uhr am Freitagnachmittag vor der Synagoge. In einer umgebauten Turnhalle sitzen wir zusammen mit acht weiteren Personen auf weißen Plastikstühlen, als die Kantorin der Gemeinde anfängt, mit Liedern den kommenden Sabbat zu begrüßen. Ich habe mir eine Kippa, die jüdische Kopfbedeckung zum Gebet, aufgesetzt, obwohl wir im Vorfeld darauf hingewiesen worden sind, dass dies nicht sein müsste. Es gehört zum Grundsatz dieser Synagoge, dass jeder so beten darf wie er so oder sie mag. Es sind schöne Melodien, die angestimmt werden. Eines der ersten Lieder ist ein Liebeslied aus dem Hohenlied der Liebe. Ich bin etwas erstaunt ob der Leere im Raum und erlebe dann aber in der nächsten halben Stunde das Wunder der Gottesdienstbesuchervermehrung. Nach und nach kommen Menschen, Jung und Alt, ganze Familien, so dass nach einiger Zeit der A cappella-Gesang der Anwesenden immer mehr anschwillt und schließlich rund 100 Personen alle Sitzplätze belegen und sogar im Eingangsbereich stehen. Männer und Frauen sitzen gemischt. Es sind Melodien unterschiedlicher Traditionen, die im Siddur, der Gottesdienstordnung, zusammengefasst sind. Sephardische (d.h. aus der Tradition der zum Beispiel aus Spanien oder Marokko stammenden Juden) und aschkenasiche (der Tradition Mittel und Osteuropas) wechseln sich mit traditionellen jüdischen Melodien ab. Hier wird musikalisch bereits Einheit gelebt. Der Gesang und das Gebet sind sehr innig. Ich bin bewegt angesichts der gelebten Spiritualität und fühle mich wie zu Hause in einem Lobpreis- und Anbetungsgottesdienst. Freude erfüllt den Raum und ist ansteckend. In dem Liederheft findet sich eine englische Übersetzung der gesungenen Gebete. Manchen Texten wie dem Psalm 96 (Singet dem Herrn ein neues Lied), die ich aus meiner Studienzeit noch gut auf Hebräisch kenne, kann ich folgen. Anderes wie z.B. ein aramäisches Textstück ist mir fremd. Aber das ist völlig nebensächlich, weil der Geist und die Atmosphäre in diesem Raum so wohltuend sind. Musik kann verbinden. Toleranz und Respekt können verbinden. Ich fühle mich inmitten mir fremder Menschen nicht als Gast, sondern als Teil eines Ganzen. Danke, Oded, für diesen Tipp! Du hast Recht: „Worlds can be bridged.“

Journalismus und der Umgang mit Lesarten aktueller Ereignisse –
Besuch beim ARD-Studio Tel Aviv


Ein drittes Erlebnis mit der Konstruktion von Wirklichkeit mache ich in einer ganz anderen Welt. Bei einem Besuch des ARD-Studios in Tel Aviv standen die Studioleitungen des Bereiches Fernsehen, Susanne Glas, des Bereichs Radio, Tim Assmann, sowie Korrespondent Mike Lingenfelser Rede und Antwort auf die Fragen der vierzig Mitreisenden der Exkursion der Ev. Erlösergemeinde in Jerusalem. Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, wie die Mitarbeitenden der ARD damit umgehen, dass alle möglichen Seiten hier vor Ort ihre Interpretationen der Ereignisse einbringen wollen. Wie man so schön sagt „Den Narrativ bestimmen wollen“. Die Mitarbeitenden der ARD wiesen auf die journalistische Sorgfalt hin, mit der sie ihre Arbeit tun. Zunächst berichten sie neutral nur von dem, was sie im Lande mit eigenen Augen sehen. 


Von hier berichten sonst ARD-Korrespondenten
Dabei fragen sie intensiv bei den Erzählenden nach und lassen sich das Erlebte auch mal zwei oder drei Mal erzählen. Die Beiträge werde von mehreren Mitarbeitenden gemeinsamen aufgenommen, so dass nicht nur nach Vier-Augen-Prinzip gearbeitet wird, sondern manchmal sechs- oder sogar acht Augen prüfend Berichte bearbeiten. Die Korrespondenten arbeiten mit erfahrenen Producern zusammen, die Land und Leute kennen. Im Zweifelsfall wird auch einmal eine gute Geschichte nicht gebracht, wenn dadurch Menschen vor Ort gefährdet würden. Mir gefällt diese Sorgfalt im Umgang mit den Berichtsthemen und auch die besonnene und reflektierte Art der Mitarbeitenden. „Wir bemühen uns um die Grautöne“, bringt es Susanne Glas als Gegenteil zur Schwarz-Weiß-Malerei auf den Punkt. „Es gibt immer verschiedene Lesarten“, das illustriert sie dann mit Beispielen aus ihrer Praxis. Es sind die persönlichen Gespräche mit Menschen vor Ort, die nach und nach ein präziseres Bild der Situation ermöglichen.

Das lässt mich über die Frage nachdenken, wer den Narrativ im Kampf um die Meinungshoheit bestimmt?
Unversöhnbar scheinen die Gegensätze zwischen den Menschen im Nahen Osten aus europäischer Sicht zu sein. Wie können Israelis und Palästinenser in Frieden zusammenleben, darauf wird von Europa aus immer wieder der Blick geworfen. Schaut man genauer hin, erkennt man, dass die Welt auch hier nicht einheitlich ist. Die israelische Gesellschaft ist vielfältig in ihren Meinungen. Bei der anstehenden Knessetwahl am 09. April werden um die 30 Parteien antreten, die sehr unterschiedliche Standorte vertreten, was das Beste für die Zukunft für das Land Israel ist. Zehn politisch sehr verschiedene Parteien können damit rechnen, die 3,25 % - Hürde zu überschreiten. Auch in den palästinensischen Gebieten wird vielfältig über die Zukunft und gangbare Wege dorthin diskutiert. Die Fatah im Westjordanland und die Hamas in Gaza sind sich spinnefeind und wählen dabei unterschiedliche Ansätze.
Es ist in Israel / Palästina eigentlich wie in vielen Ländern auf der Welt, egal ob zwischen linken und rechten Parteien in Deutschland beim Streit über den richtigen Umgang mit Migration und Asylrecht, zwischen Demokraten und Republikanern in den Staaten über die Grenzmauer zu Mexiko oder in Großbritannien zur Zeit um den Brexit. Es wird überall um die richtige Meinung gestritten. Das ist im Grunde ja auch ein gut, weil der politische Diskurs die Chance birgt, im Wettkampf der Meinungen das Beste Ergebnis zu erzielen. Zumindest wenn die Angst dem nicht im Weg steht, die viele Debatten zur Zeit bestimmt.[1] Und hier in der Region ist vieles angstbesetzt. Es geht für alle Beteiligten (scheinbar?) ums nackte Überleben wie der ehemalige langjährige Auslandskorrespondent der ARD in Tel Aviv, Richard C. Schneider, in seinem Buch „Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel“ im Jahr 2017 analysiert. Und das Fatale: Die Diskussionen mündeten immer wieder in Gewalt und Krieg, die die Gräben noch unüberbrückbar machen.
Zur Zeit ist es in Israel und den palästinensischen Gebieten in Bezug auf Kriegshandlungen im Vergleich zu früheren Zeiten relativ still (abgesehen z.B. von ständigen Eskalationen am Grenzzaun zu Gaza, dem Zerstören von Tunnelanlagen, die aus dem Libanon in israelisches Gebiet führen und dem Agieren der israelischen Armee gegen iranische Stellungen in Syrien).
In der Region herrscht aber ein wahrer Meinungskrieg über die richtige Lesart der gegenwärtigen Ereignisse (wer ist der eigentliche Aggressor) und die richtige Interpretation der älteren und jüngeren Geschichte (Wer hat Anspruch auf das Land? Wer war zuerst da? Wer hat mit der Gewalt angefangen?)[2]. Ich verzichte mal an dieser Stelle auf eine Ausführung und Stellungsnahme dazu und weise nur auf zwei aktuelle Artikel hin, die sich mit dem Phänomen an für sich beschäftigen.
Vielfach wird hier inzwischen über diesen verdeckten Krieg über die Interpretationshochheit reflektiert. In ihrem Artikel „Kampf der Narrative“ beschreibt dies Alexandra Senfft für die innerisraelische Diskussion[3]. Und auf der Seite der Konrad-Adenauer Stiftung findet sich ein Beitrag „Kalter Krieg am Golf“ [4]von Gidon Windecker und Peter Sendrowicz, die auf den Konflikt zwischen den regionalen Mächten Iran und Saudi-Arabien eingehen.

Was bleibt von dieser zweiten Woche?
Die Erkenntnis, dass das Leben nicht immer so ist wie es scheint. Der Mensch konstruiert sich seine Wirklichkeit. Die Herausforderung dabei ist es, wenn möglich, der tatsächlichen Realität möglichst nahe zu kommen. Es ist für mich kein Gegensatz, mit Fakten umzugehen, um das richtige Verständnis eines Wortes oder einer archäologischen Stätte zu ringen und gleichzeitig das Besondere solcher Orte oder Gedanken zu erspüren.
Wichtig scheint mir das Bewusstsein, dass wir alle nur einen Teil der Wirklichkeit wahrnehmen und das große Ganze jeder für sich (re)konstruieren. Das sollte uns demütig machen. Und menschlich. In der Begegnung liegt der eigentliche Zauber des Menschseins. Davon berichten die getroffenen Menschen vom Journalisten bis hin zur Rabbinerin immer wieder. Gelungene Begegnung mit Land und Leuten, mit Orten, mit Gott selbst hat immer etwas Heiliges. Und das nicht nur im Heiligen Land. Begegnung auf Augenhöhe ist wie ein Schlüssel, der die Tür zu Respekt und Frieden miteinander öffnen kann. Oder mit den Worten des jüdischen Philosophen Martin Buber: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. Wie komme ich der Wirklichkeit über meine Mitmenschen auf die Schliche? Indem ich bereit bin zur wirklichen Begegnung.
BCU, 20. Januar 2019



[1] Zur Angst siehe "Denkschule des Realismus" in der Politik (internationale Beziehungen)
[2] Zur Geschichte siehe auch z.B. „Der Nahostkonflikt“ auf der Homepage der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Würtemberg
[3] Kampf der Narrative, Alexandra Sennft, In: der Freitag | Nr. 21 | 24. Mai 2018
[4] Kalter Krieg am Golf, Gidon Windecker und Peter Sendrowicz,

Bilderbogen zweite Woche Jerusalem

Meine zweite Jerusalemwoche führte mich in dieser Woche u.a. erneut in den Garten Gethsemane und auf den Ölberg (diesmal zur Himmelsfahrtskapelle auf den höchsten Punkt des Ölberges, zur Himmelfahrtskirche Auguste Viktoria, zur Paternoster-Kirche und zu einer orthodoxen Klosteranlage).


Ob dieser Ölbaum zur Zeit Jesu schon stand?


Himmelfahrtskapelle auf dem Ölberg

 

"Letzter" Fußabdruck Jesu Himmelfahrtskapelle 


Die Himmelfahrtskirche Auguste Viktoria


In der Paternosterkirche finden sich 177 Vaterunser-Tafeln


Hier soll Jesus seinen Jüngern das Vaterunser gelehrt haben

Jerusalem hat im Durchschnitt einen Tag Schnee im Jahr, was für die Bewohnerinnen und Bewohner immer ein besonderes Ereignis ist.
Ich habe ihn erwischt, Hurra! Leider an diesem Abend auf dem 5km entfernten Ölberg. Da die Busse nicht mehr fuhren kam ich zu einem unerwarteten Spaziergang.


Schneestürmchen auf dem Ölberg - Natürlich fuhr kein Bus mehr


Jerusalem hat im Durchschnitt einen Schneetag pro Jahr


In der Altstadt von Jerusalem war es dann schon Regen


Außerdem besuchte ich die Stadt Davids am Zionsberg vor den Stadtmauern und den Stadtteil Mea Schea´rim (von dem ich keine Fotos machte, weil die dort lebenden ultra-orthodoxen Juden verständlicherweise nicht als Touristenattraktion betrachtet werden wollen).




Mea Schea´rim ist bekannt für seine köstlichen Teigwaren.
Stimmt. War sehr lecker!

Eine Wanderung durch ein Naturschutzgebiet (u.a. durch das ehemalige palästinensische Bergdorf Lifta) rund um den Mount Herzl war ein besonders Naturerlebnis


Wanderung durch ein nahes Naturreservat







Mit den drei lutherischen Gemeinden in der Erlöserkirche, der deutsch-, der arabisch- und der englischsprachigen Gemeinde, die sich die Kirche als Gottesdienststätte teilen, gab es dann noch einen gemeinsamen Gemeindeausflug inklusive Taufe und Barbecue zur Taufstelle am Jordan.


Hier soll Jesus getauft worden sein... 

Für die deutschen Gäste nur das Beste :-)


















Mein Studienprogramm führte mich außerdem nach Tel Aviv zum ARD-Studio, in ein Institut für jüdische Studien und zu einem Vortrag über Archäologie im Heiligen Land. Darüber berichte ich in einem gesonderten Blog.

Sonntag, 13. Januar 2019

„Was führt und hält Menschen zusammen“? – Mosaik einer Woche Jerusalem


Man kann sich seine Familie nicht aussuchen – aber man kann sie trotzdem lieben“, behauptet die Buchautorin Barbara Kunrath in einem Essay über das vor ihrem eigenen biographischen Hintergrund entstandene Buch „Schwestern bleiben wir immer“. [1]
Sie beschreibt in wenigen Zeilen das faszinierende Zusammenspiel von geschwisterlichem guten oder auch verletzendem Streit sowie der unerklärlichen Verbundenheit, die sich aus der familiären Verbundenheit ergibt. Die Familie kann man sich nicht aussuchen, man kann sie meiden oder einen engen Kontakt suchen. Eltern bleiben aber immer Eltern, Geschwister kann man aus der eigenen Biographie nicht auslöschen. Alle anderen Konstanten im Leben von der Wahl des Lebenspartners bzw. der Lebenspartnerin bis hin zu den Nachbarn liegen dagegen mal mehr oder minder in unseren eigenen Händen.

„Was führt und hält Menschen zusammen?“, mit dieser Frage bin ich durch die erste Woche meines Aufenthaltes in der multikulturellen und –religiösen Stadt Jerusalem gelaufen und habe möglichst vielen Menschen diese Frage gestellt oder ihren Ausführungen gelauscht.

Suk von Jerusalem - Der Preis ist Verhandlungssache
Gleich am ersten Tag spricht mich in der Via Dolorosa Magid an, ein Geschäftsmann wie es im Buche steht. Ich habe die starke Vermutung, dass er mir ein in China hergestelltes Jerusalemkreuz als örtliche Produktion und zu einem überteuerten Preiss verkauft, aber er verrät mir auch, dass für ihn die Religionsgrenzen und die Volkszugehörigkeiten keine Rolle spielen. Für ihn als Kaufmann ist es sogar sehr wichtig, dass man Frieden in der Stadt hält. Klar, sonst würden die Touristen fernbleiben, die seine Existenzgrundlage sind. Das gemeinsame Geschäftsinteresse verbindet ihn mit den anderen Bewohnern der Altstadt. Alles andere rückt in den Hintergrund. In das Bild passt auch die Flexibilität in Bezug auf seinen Namen. Als er erfährt, dass ich aus Deutschland stamme spricht er mich mit bayrischen Akzent an und sagt, dass ich ihn auch Michael nennen könne. Auf die Frage wie er denn richtig hieße, nennt er mir Magid als seinen Namen. Als er mir seine Visitenkarte zum Schluss überreicht, lese ich „Mikes Store“. Namen sind Schall und Rauch, wenn es ums Geld verdienen geht. Politik oder konfliktreiche Religionsspannungen würden da nur stören.

Künstler Omar fühlt sich durch Kunst mit anderen verbunden
In der zweiten Reihe des Suk treffe ich an einem kleinen Schmucklädchen Omar und seinen Vater, die vorbeigehenden Besuchern Jerusalems gerne den Weg zur nahen Terrasse über den Dächern Jerusalems zeigen. Nach einem beeindruckenden Panoramablick kehre ich zurück und bedanke mich für den Tipp und lasse mir gerne seine Auslage mit von ihm und seinen Vater produzierten Schmuck zeigen. Meine Kauflaune ist für heute gestillt und das sage ich Omar auch so, was er erstaunlicherweise sehr freundlich akzeptiert. Ich stelle ihn aber meine Frage, worauf er mir einen (Salbei)Tee und einen Platz anbietet und mir erzählt, dass er Freunde aus allen Bevölkerungsschichten Jerusalems hat. Die Gemeinschaft mit Menschen gleicher Gesinnung sei ihm viel wichtiger als alles politische und sein besonderes Interesse als Künstler sei die Kunst.

Hier in Jerusalem an der Bezaleel Academy of Arts and Design (einer staatliche Kunst- und Designhochschule mit gut 2000 Studierenden) spielten z.B. die Unterschiede keine Rolle. Ich bin neugierig auf diese Ausbildungsstätte und entdecke im Grußwort ihres Rektors Dr. Yuval Karniel eine Passage, die den Anspruch betont, nicht im Elfenbeinturm der Kunst zu verharren, sondern durch Kunst auch ein Teil der israelischen Gesellschaft zu sein: Bezalel is the largest accelerator within Israeli society for creativity and innovation, and for achieving harmony, referential integrity, preciseness, and quality, based on hard work, perseverance and ethics. … Bezalel is not interested in withdrawing into an ivory tower but takes part in Israeli society. Creativity stems from within, and from there it is possible to burst into our vast world“ [2].

Genauso wie Kunst verbinden kann, so auch andere gemeinsame Interessen stelle ich in den folgenden Tagen fest. Nach meiner Herkunft gefragt gebe ich meist meinen Wohnort Witten in Deutschland in der Nähe von Dortmund an. Nicht selten schließt sich ein Gespräch über die hervorragende Fußballmannschaft des BvB an. Gemeinsame Interessen und Themen wie der Sport verbinden Menschen und lassen sie ins Gespräch kommen. Was aber, wenn man nicht die gleich Sprache spricht?


Bei Raphats Kaffee fühle ich mich wie zu Hause 
Am Löwentor im muslimischen Viertel der Altstadt treffe ich auf Raphat, der vor seinem kleinen Laden auf einem Feuerchen arabischen Kaffee in einer Džezve zubereitet. Ich liebe diese ursprünglichste Art der Kaffeezubereitung und den Geschmack des frisch aufgekochten Kaffees, die ich von meinen in Kroatien lebenden Schwestern kenne. Ich bin der einzige Gast und so hat Raphat Zeit, mit mir zu kommunizieren. Ich wähle bewusst dieses Wort, denn Raphat kann nur einige englische Wörter. Irgendwie gelingt es aber trotzdem zu erfahren, dass dies sein und seines ein paar Meter weiter frischen Granatapfelsaft auspressenden Bruders Haus sei, in dem auch ihre Eltern und ihre Kinder wohnen. Ich verrate ihm, dass ich aus „Germany“ stamme und wie so manches Mal höre ich darauf die Antwort „Germany good“. Ich möchte gar nicht wissen, was ihm und anderen dabei so an Gedanken durch den Kopf geht und was er aus Gegenwart oder Vergangenheit denn nun gut findet. Mich interessiert vielmehr die Frage, ob er Kontakt zu Menschen aus anderen Vierteln der Stadt hat. Zum Glück kommt während des Kaffeekochens sein Neffe vorbei, der ein paar mehr Wörter Englisch kann. Es habe wenig bis keinen Kontakt zu Menschen anderer Viertel. Hier sei man eher für sich. Raphat bereitet zwei Kaffee vor, einen für sich und mich. Ich bedanke mich anständig auf arabisch mit dem Dank šukran, was Raphat ein anerkennendes Lächeln auf sein Gesicht zaubert. Gesten sagen manchmal mehr als 1000 Worte. Was führt Menschen zusammen? Manchmal ist es die gemeinsame Freude an einem guten Kaffee, denn von den zwei zubereiteten Kaffee trinkt er den zweiten mit mir vor dem Feuer sitzend gleich mit.

Frühstücksgemeinschaft Christian, Pertti, Matti, Paavo (v.L)
Im Laufe der Woche folgen einige Begegnungen. Am Frühstückstisch erzählen mir Matti, Pertti und Paavo, die aus Finnland stammen, aber bereits seit Jahrzehnten in Kanada leben, dass in ihrer pfingstlerischen Gemeinde lange Zeit die ethnische Zusammengehörigkeit der Emigranten und die spirituelle Grunderfahrung des Wirken des Heiligen Geistes sehr wichtig für das Zusammenleben war. Erst mit der jüngeren Generation, die ihre Gottesdienste lieber auf Englisch als auf Finnisch abhalten, ändert sich dieses. Nun muss die Gemeinde eine Mitte finden, die die Generationen zusammenhält. Im Moment ist es ein Abendmahlsgottesdienste, der zusammen gefeiert wird. Hier gibt es jeweils eine Predigt auf Finnisch und eine auf Englisch.
Evangelische Erlöserkirche

Das Verbindende von Sprache und Herkunft, das die der drei finnischen Auswanderer mir gegenüber erwähnen, kann ich am Sonntagmorgen im deutschsprachigen Gottesdienst der evangelischen Erlöserkirche in der Jerusalemer Altstadt an Leib, Geist und Seele spüren. Die vertraute Liturgie, die Choräle und die von Pfarrerin Gabriele Zander ausgeführte Predigt, sind wie eine gut bekannte Insel inmitten der fremden Kultur. In der Muttersprache betet es sich doch noch immer am vertrautesten.

An einem Nachmittag hatte ich auch die Möglichkeit, einem Vortrag einer Dozentin des Hebrew Union Colleg, einer Ausbildungsstätte für Rabbin*innen und Kantor*innen zu folgen. Rabbi Dahlia Marx sprach vor den anwesenden Studierenden der Studienprogramme „Studium in Israel“ sowie der „Dormitio“ und vor eigenen Studierenden über Herausforderungen und Chancen des Interreligiösen Dialoges. Besonders gut gefiel mir dabei die Verwendung des Begriffes „Interfaith dialogue“, weil er auf die Begegnung im Glauben und weniger auf die formale Dimension der Religion verweist, der im Deutschen beim Begriff der Religion mitschwingt. Noch schöner fände ich übrigens persönlich den Begriff „interfacial“, weil er mit face, dem Gesicht, auf einen Dialog von Angesicht zu Angesicht verweist, geht mir durch den Kopf. Ich bin gar nicht sicher, ob dies im englischen Sinn macht. Interface kenne ich bisher nur als Schnittstelle eines Computers. Vielleicht kann mir das ja jemand mit besseren Englischkenntnissen weiterhelfen.

Rabbi Marx erwähnt in ihren Ausführungen einige Grundlagen für gelingenden Dialog auch über die Religionsgemeinschaften hinaus: Der Dialog sollte vor allem nicht instrumentalisiert werden. So teilte sie aus ihrer Erfahrung die Beobachtung mit, dass Christen von Juden häufig etwas über Jesus erfahren wollten, um Jesus besser als Jude verstehen zu wollen. Sie als Jüdin meinte, dass Juden eher in einen Dialog wegen der Begegnung treten würden. Auch spiele Theologie häufig weniger für sie eine Rolle. Ein Jude zu sein, hänge bisweilen mehr mit Identität als mit Religiosität zusammen.
Jeder Gesprächspartner sollte offen und ohne Vorbehalt und auch ohne Ziel ins Gespräch eintreten. Auf Bekehrung sollte man verzichten, aber auch auf Vermischung und Beliebigkeit. Wichtiger als Ergebnisse sei ohnehin der Dialog an für sich, weil er Ängste und Vorurteile abbaut. Einer der jüdischen Rabbinnenschüler wurde auch nach seinen Erfahrungen im Gespräch gefragt. Seine Aussage „it depends“, „Es kommt darauf an“, fasst für mich die Möglichkeit einer bereichernden Begegnung gut zusammen.
Begegnung lebt neben einer offenen Grundeinstellung halt auch immer von den Rahmenbedingungen oder gemeinsamen Anknüpfungspunkten. Das können neben den schönen Dingen des Lebens auch grenzüberschreitende Leiderfahrungen sein und der Sinn und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden sein. In den nächsten Tagen und Wochen werde ich einige Begegnungen mit Menschen haben, die aus anderen Gründen oder Motivation zusammenarbeiten.
Eine für mich inspirierende Erfahrung in diese Richtung mache ich beim Besuch der Synagoge Kehilet Har-El gleich in der Nachbarschaft meines Wohnsitzes. Die Gastfreundschaft der kleinen Gemeinschaft, in der ich nicht nach Glauben oder theologischer Meinung gefragt wurde, erlebe ich erfrischend. Mit einem Apfelpunsch stoße ich gerne nach dem Gottesdienst zu Beginn des Shabbat mit einem Shabbat Schalom auf den 61. Geburtstag an, der gerade an diesem Freitagabend gefeiert. Hier erlebe ich etwas Smalltalk mit anderen Besuchern und verzichte darauf, meine Frage zu stellen, weil sie sich von selbst beantwortet. Die Menschen lieben den gemeinsamen Gesang, die Musik, ihre Gemeinschaft. Begegnung kann manchmal besonders schön sein, wenn man Menschen Freude aneinander haben. Das spürt man bei den Mitgliedern dieser Synagoge.

Das lässt mich in Gedanke zu einem Grund kommen, der Menschen zu allen Zeiten zusammenführt: Sympathie und Liebe sind sicherlich der stärkste Antrieb, den man sich dafür vorstellen kann, dass Menschen zueinander finden und miteinander auf dem Weg bleiben. Die verschiedenen Formen der Liebe wurden über die Jahrhunderte vielfach reflektiert: Die freundschaftliche Philialiebe, die körperliche und sinnliche Erosliebe und die selbstlose Agapeliebe sind sicherlich die einer der Hauptgründe, dass Menschen aufeinander zugehen.Hier in Jerusalem fällt mir ein Wort Jesu ein, die diese Liebe in ihrer letzten Konsequenz zeigt: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (Johannesevangelium 15, 13). Zum Anfang muss man aber ja nicht so weit gehen.

Guide der Umweltschutzorganisation ecopeace 


Heute stand dann noch eine Begegnung mit einem Umweltschutzaktivisten von EcoPeace Middle East, einer Organisation, in der Umweltaktivisten aus Jordanien, Palästina und Israel grenzüberschreitend zusammenarbeiten, auf dem Programm. Die Mitarbeitenden von ecopeace haben sich zum Ziele gesetzt, das Ökossystem zwischen See Genezareth über des Jordan bis hin zum Toten Meer zu retten. Seit Jahren wird von allen Anrainern zu viel Wasser vor dem Einfluss in den Jordan durch Staudämme abgeschöpft. Darüber hinaus werden dreckige Abwässer in den Jordan geleitet. Nach Jahrzehnten verändert sich die Landschaft, die doch gleichzeitig allen drei örtlich präsenten Weltreligionen heilig ist. Wir besuchen ein ehemaliges Strandbad am Toten Meer, von dem man das Wasser nur noch weit entfernt ahnen kann. Wir besichtigen die „braune Brühe“ des zur Zeit sogar erfreulich viel Wasser führenden Jordans (es ist ja Winter,- und sogar seit fünf Jahren wieder einmal ein regenreicher) an der Taufstelle, an der auch Jesus von Johannes den Täufer getauft worden sein soll.
Für den Erhalt arbeiten viele hundert und tausende Mitarbeitende über alle Grenzen hinaus zusammen und betreiben Überzeugungsarbeit gegen wirtschaftliche Interessen bevor es zu spät. Das Bewusstsein für die Schönheit der Natur führt sie zusammen. Ein wahrer Lichtblick in der Region, in der man sich ja bevor man über Jerusalem und den Besitz des Landes, wenigstens mal bei dem gemeinsam auf den Weg machen kann, was für alle lebensnotwendig ist: Sauberes Wasser, dass Grundlage für Leben und Landwirtschaft auf beiden Seiten ist. „Selbst sicherheitspolitisch hat Israel Interesse, dass es in Jordanien zu einer guten Wasserversorgung kommt und nicht wie in Syrien Unzufriedenheit zu Unruhen oder sogar einem Bürgerkrieg führt", war seine These. Wer mehr darüber wissen möchte findet hier ein Video mit einem Interview mit Gideon Bromberg, der die Vision von ecopeace erklärt.

 Klagemauer
Grabeskirche


Und wie ist es mit der Religion, frage ich mich am Ende meiner Woche? Führt sie eher zusammen oder trennt sie die Menschen? Hier ist sicher zum einen grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Religion im spirituellem Sinne oder im dogmatischen Sinne.

Felsendom
Je nachdem, welcher Zugang gewählt wird, wird auch die Frage beantwortet, ob Religion zusammenführen kann, vermute ich. Schaue ich auf das einzelne Dogma, so trennt mich schon im Christentum manches von anderen Konfessionen. Mit der Marienverehrung kann ich persönlich bei aller Hochachtung der Mutter Jesu gegenüber wenig anfangen. Würde ich beim Dialog mit katholischen Christen immer nur auf dieses Thema kommen, so wäre man sich auf Dauer der Verschiedenheit und Trennung sehr bewusst. Beim Gottesverständnis eines gnädigen Gottes, in der Nachfolge Jesu und im Bewusstsein des Wirkens des Heiligen Geistes treffen wir uns dagegen und können zusammen unsere Gemeinsamkeiten feiern.
Pilger auf dem Weg zum Tempelberg 
Hier in Jerusalem sind die Pilger auf jeden Fall in gewisser Weise miteinander verbunden.
Es ist aber auch nicht schwer, in der Religion Trennendes zu finden. Wo kann aber Religion verbinden? Ich meine dort, wo Menschen im anderen den Mitmenschen als Geschöpf Gottes erkennen. Egal ob man sich die Welt in sieben Tagen geschaffen denkt oder als Evolutionsprozess: Wir stammen alle von den gleichen Eltern ab und sind eine Menschheitsfamilie. „Man kann sich seine Familie nicht aussuchen – aber man kann sie trotzdem lieben“, vielleicht gilt das ja nicht nur für die Kleinstfamilie, sondern auch für die Menschheitsfamilie.

BCU, 13. Januar 2019




[1] „Schwestern bleiben wir immer“, Barbara Kunrath, Ullstein-Buchverlag, 2016,
siehe auch https://www.resonanzboden.com/herzenssache/barbara-kunrath-schwestern-familie-lieben/

[2] Den Text im ganzen siehe: http://www.bezalel.ac.il/en/about/rector/



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