Samstag, 6. April 2019

„You are a part of the family“ – Teil 1: Willkommen in der Synagogengemeinschaft Kehilat Zion

Rabbi Tamar Elad Appelbaum (Bildquelle: Kehilat Zion)
„Ihr seid ein Teil der Familie“ – welch Ausdruck warmherziger und großzügiger Gastfreundschaft, die meinem Studienkollegen Andreas und mir von der Gemeindeleiterin Rabbi Tamar entgegengebracht wird, als sie uns einlädt, ein Wort als christliche Theologen an ihre Synagogengemeinde Kehilat Zion zu richten. Sie drückt damit in einem Satz aus, was wir durch unseren Freund Oded, über den ich bereits zuvor berichtet habe, auch in der Praxis erfahren durften. 
In einem früheren Blogeintrag habe ich ja bereits diese Synagogengemeinschaft erwähnt, die mich in den letzten Monaten genauso freundlich wie die Mitchristen der Ev.-Luth. Erlöserkirche in Jerusalem sowie eine palästinensische Familie aus Beit Sahour, die der Melkitischen Kirche angehört, aufgenommen hat. Warum fühle ich mich gerade als Fremder an diesen drei Orten so heimisch? Dem möchte ich in einem dreiteiligen Beitrag nachspüren. Hier im ersten Teil meine Eindrücke zur Synagogengemeinschaft Kehilat Zion.

„World can be brigded“ hieß eine der Grundthesen des Rabbinenschülers Oded Peles im Rahmen eines Vortrages, bei dem er am 17. Januar d. J. im Schechter Institute for Jewish Studies darüber sprach, was er von seinen christlichen Freunden lerne. Er glaube fest daran, dass Welten verbunden werden könnten. Und wer das nicht glauben könne, den lade er in seine Synagogengemeinschaft ein. Und, falls einer der 30 Zuhörerinnen und Zuhörer das noch nicht während seiner Zeit in Jerusalem erlebt haben sollte, auch zu sich nach Hause zum Shabbat. "Come and see" - Komm und sieh - ermutigte er die Anwesenden. Zusammen mit Andreas, einem weiteren der Kontaktpfarrer meines Studienprogrammes, ließ ich mir das neugierig geworden nicht zweimal sagen. Zweieinhalb Monate, einige Spaziergänge durch den malerischen Vorort En Kerem und durch Jerusalem, einen fröhlichen Purimgottesdienst mit Party sowie zwei Shabbatabende zu Hause bei Oded und Rabbi Tamar und ihrer Familie später kann ich nur schreiben: Ja, Welten können überbrückt werden. Wenn es sich einrichten lässt, besuche ich am Shabbatabend den Synagogengottesdienst in der Kehilat Zion und stimme mich mit rund einhundert Menschen auf den kommenden Shabbat ein. Und: Dabei fühle ich mich als Christ in der Tat nicht als Fremdkörper, sondern als Teil der Familie.

Die Kehilat Zion (Kehilat bedeutet Gemeinschaft) ist eine junge Synagogengemeinschaft, die sich vor sechs Jahren gebildet hat. Sie ist von ihrem Selbstverständnis und von ihrer Zugehörigkeit zu einem übergeordneten Verband konservativ. Von ihren Formen und ihrer Weltanschauung ist sie progressiv. Was sich als Gegensatz anhört ist hier keiner.
Die Gottesdienste werden gemäß der Liturgie gefeiert, die in allen Synagogengemeinschaften seit Jahrhunderten etabliert sind. Die Auswahl der Lieder ist allerdings breiter gefächert als woanders und verbindet die beschwingtere sephardische Tradition (Stil und Liedgut z.B. aus Spanien oder Marokko betreffend) sowie die etwas nüchternere aschkenasische Traditionen (Deutschland und die östlichen Staaten bis Russland bezeichnend). Allein hier werden schon musikalische und kulturelle Welten verbunden.

Der Gottesdienst zur Begrüßung des Shabbats – Shabbat Kabbalat - wirkt sehr spirituell auf mich. Die Shabbatqueen wird zu Beginn wie eine Freundin mit Worten des Hoheliedes Salomo herbeigesehnt und besungen. Nach Untergang der Sonne folgt die Shabbatzeremonie mit dem Singen von sechs Psalmen aus der Reihe der Psalmen 92-99, einen jedem Wochentag gewidmet, dem Psalm 29, dem weit verbreiteten Lied Lecha Dodi (Komm, mein Freund), einer kurzen Predigt mit Bekanntmachungen aus dem Gemeindeleben, dem Gebet eines Klagenden, einem stillen Gebetes im Stehen und der Kiddushfeier, bei der über einen Becher Wein ein Segen gesprochen wird, von vielen als Zeichen des Bundes und der Gemeinschaft verstanden. Ich fühle mich an vieles im christlichen Gottesdienst erinnert und das erklärt sich ganz einfach: Hier liegen unsere Wurzeln.

"Come as you are. Jeder darf so kommen wie er oder sie ist, heißt es auf der Homepage der GemeinschaftEs gibt keine Kleiderordnung. Es steht mir frei, die Kippa, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung zu tragen. Ich trage sie aus Wertschätzung der Tradition gegenüber. Und vielleicht auch, weil ich etwas dazugehören möchte.

Auf der Internetseite findet sich auch folgende Selbstbeschreibung:
"Kehilat Zion is a community of Israeli Jews of all backgrounds, beliefs, customs, and practices, gathering together to re-dream Jerusalem as a meeting point for all. Zion provides the opportunity for many to pray and celebrate Judaism in a way that feels authentic and relevant to them, oftentimes for the first time in their lives, within a community deeply rooted in tradition and Jewish heritage. Within a few years Zion became a unique inspirational community for Jews and Non-Jews in Israel and around the world, paving the way through prayer, social justice, and study to a Jerusalem of shared Faith and Hope." (Kehilat Zion ist eine Gemeinschaft israelischer Juden aller Herkunft, Glaubensrichtungen, Gebräuche und Praktiken, die sich versammeln, um Jerusalem als Treffpunkt für alle neu zu träumen. Zion bietet vielen die Gelegenheit, zu beten und das Judentum auf eine Weise zu feiern, der sich für sie authentisch und relevant anfühlt, oftmals zum ersten Mal in ihrem Leben, in einer Gemeinschaft, die tief in der Tradition und im jüdischen Erbe verwurzelt ist. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich Zion zu einer einzigartigen inspirierenden Gemeinschaft für Juden und Nichtjuden in Israel und auf der ganzen Welt, die den Weg durch Gebet, soziale Gerechtigkeit und Studium zu einem Jerusalem des gemeinsamen Glaubens und der Hoffnung ebnete).

An manchen Freitagabenden besuche ich auch orthodoxe Synagogen, um auch diese Lebenswelt kennen zu lernen, sowie reformierte Synagogen, in der ich ebenfalls herzlich begrüßt werde, und die auch neue Wege musikalische Wege in der gottesdienstlichen Gestaltung gehen. Für Jerusalemreisende kann ich sowohl die Gottesdienste z.B. in der Kehilat Har-El , die musikalisch mitreißenden monatlich stattfindenden Shabbat-Kabala-Gottesdienste mit dem Nava Hagila Ensemble, sowie die 14tägig stattfindenen Shabbat-Morning-Services des Hebrew Union College empfehlen (mit vielen englischen Elementen).



Schnell merke ich aber: In der Kehilat Zion fühle ich mich besonders heimisch. Woche für Woche genieße ich die herzliche Gastfreundschaft, treffe Menschen meines Alters und meiner Lebenssituation, mit denen ich mich verbunden fühle. Manche Psalmen kann ich inzwischen vorsichtig mitsingen. Ich mag besonders die etwas beschwingteren sephardischen Einflüsse. Hier passt für mich beides: Die Beziehungsebene und die spirituelle Form.

In einem Gespräch mit Rabbi Tamar will ich es genau wissen: Woher bezieht sie ihre spirituellen Impulse? Auf welcher theologischen Basis öffnet sich ihre Synagogengemeinschaft so weit, selbst für Menschen anderer Herkunft? 
Abraham trifft Melchisedek (Quelle: siehe unten)
Sie verweist auf Abraham, dem Vater von Völkern, der vor allen Aufteilungen in unterschiedliche Stämme, Völker oder gar Nationen für die Verbindung der Menschheit steht. Und sie kommt auf die Schöpfung zu sprechen, durch die alle Menschen miteinander verbunden sind. Wir gehören als Menschen zusammen, weil wir einen gemeinsamen Schöpfer haben. Dieser Gedanke beschäftigt mich bereits seit den ersten Tagen meines Aufenthaltes in Jerusalem. Religion in den Feinheiten, dogmatisch betrachtet, kann trennend sein. Ein schöpfungstheologischer Ansatz, der das Verbindende sieht, könnte dagegen helfen, Grenzen zu überwinden und friedenstiftend wirken. In dem Grußwort im Rahmen des Shabbatgottesdienstes der Synagogengemeinde, um das mein Pfarrkollege Andreas und ich gebeten wurden, werde ich diesen Gedanken entfalten. Hier nur die einleitenden Sätze:
"Liebe Freunde der Kehilat Zion,
vor einigen Jahrzehnten hätte man es noch als ein Wunder bezeichnet, dass wir beide als Menschen deutscher Herkunft und christlicher Tradition hier stehen würden.
Zum Glück ändern sich die Zeiten. Es ist für uns eine große Ehre, heute zu Euch zu sprechen. Es fühlt sich heute für mich nicht mehr als ein Wunder, sondern in gewisser Weise als selbstverständlich und normal an. Warum? Weil wir zusammen gehören.
Wir verstehen heute, dass wir vor allem Trennenden menschliche Geschöpfe sind. Wir stammen alle von den gleichen Vorfahren ab. Wir sind Geschöpfe Gottes, der uns mit Kreativität und Liebe geschaffen hat.
Auf dieser Grundlage nehme ich mir heute die Freiheit ergänzend zur Anrede "Liebe Freunde" auch zu sagen: Liebe Schwestern und Brüder! ..." 
Diese und weitere Gedanken sind sehr befürwortend von Gemeindegliedern angenommen worden, die nach dem Gottesdienste auf uns zu und ins Gespräch kamen. Sich als Bruder und Schwester zu bezeichnen, ist für mich im Übrigen auch jenseits der Religion eine logische Schlussfolgerung der Überlegung, dass wir einer menschlichen Familie entstammen und gleiche Vorfahren haben. Dieses konsequent zu Ende gedacht, verpflichtet mich, den Frieden zu suchen.
Rabbi Tamar sprudelt in den Begegnungen nur so vor Begeisterung so über. Woher nimmt sie ihre Freude möchten wir bei einer Begegnung wissen? Ihre spirituelle Kraft zieht sie aus chassidischem Gedankengut, erklärt sie uns, welches das Judentum von der Bedeutung her interpretiert und nicht vom Buchstaben. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, den sie entfaltet.

Die Mizvot der Thora (der fünf Bücher Mose), d.h. die Verbote und Gebote, sind ihr wichtig. Sie verweist aber auch zugleich darauf, dass das Wort Mizvot, das von uns mit Gebote übersetzt wird, 
etymologisch von der Bedeutung "together – gemeinsam“ abhängt. Die Mizvot sollen Menschen mit Gott und Miteiander verbinden.
Eine Thorarolle -( Bildquelle s.u,)
Sie sollen auch die Seele und den Körper verbinden, denn sie schaffen (z.B. durch das Gebot des Shabbats) eine Verbundenheit miteinander.
Gott schuf die Welt "together" (gemeinsam).
Das chassidische Judentum verfolgt dabei einen neuen, ganzheitlichen Ansatz des Denkens und Lebens: Essen ist in diesem Denken zum Beispiel keine Angelegenheit der Notwendigkeit, um sich zu ernähren. Das Essen ist wie alles andere eine sehr bewusste Sache. „Wir essen und geben damit Gott und seinem Namen die Ehre.“
Der Körper ist in diesem Ansatz kein Hindernis für die Seele. Die Seele ist die Schwester des Körpers. Studieren und persönliches Treffen von Menschen sind keine Gegensätze. Beziehungen zu pflegen ist dagegen sogar ein Gebot. Es ist ein freudiges und fröhliches Judentum, das in dieser Synagoge gelehrt wird. Vor allem ist es ganzheitlich.
Ins Bild passt auch, dass in der Kehilat Zion die Kinder im Mittelpunkt stehen. Sie haben während der Synagogengottesdienste ein eigenes Programmen, zu dem sie beim Hinausgehen gesegnet werden. Auch hier gleichen sich die Bilder zu einem Gottesdienst in meiner Pfarrgemeinde in Witten. Außerdem engagiert sich die Synagogengemeinschaft bei verschiedenen sozialen Projekten wie zum Beispiel beim Unterhalt einer Kleiderkammer mit dem Namen "Blue doors". Zweimal im Jahr wird der Shabbatgottesdienst auch ins nahe Seniorenheim verlegt. Männer und Frauen sind gleichberechtigt und wirken auch im Ehrenamt bei der Gestaltung der Synagogengottesdienste mit, indem sie in Ergänzung zum Kantor liturgische Stücke singen oder beten. Für Erwachsene gibt es ein Studienprogramm. Gebet spielt eine wichtige Rolle in der Gemeinschaft. So werden die Mitglieder ermutigt, außerhalb der Gottesdienste ein Gebetsleben zu entwickeln. Es wird aber keine Vorschrift gemacht, wie das zu erfolgen hat.
Alles soll in Freiheit erfolgen. Ein Ziel der Gemeinschaft ist es ein Homeland zu schaffen, ein spirituelles und persönliches Heimatland.
Gleichzeitig fühlt sich die Gemeinschaft dem interreligiösen Dialog verpflichtet, der Menschen zusammenführt, statt neue Gräben zu ziehen. Dazu werden auch bewusst Wege in das palästinensische Ostjerusalem gegangen. Berührungsängste gibt es hier nicht, sondern besonders Freude an der Begegnung.

Kehilat Zion, das ist eine jüdische, weltoffene Synagogengemeinschaft mit einer außergewöhnlichen Willkommenskultur. Im Rahmen meines Studienprojektes Gemeinde und Kirche in einer interkulturellen Gesellschaft ein wahres Leuchtturmprojekt für ein gelingendes Miteinander von und mit Menschen verschiedener kultureller Hintergründe.
BCU, 06. April 2019

Bildmaterial:
Diesmal keine persönlichen Fotos - Bei den Gottesdiensten der Kehilat Zion am Shabbat wird nicht fotographiert, es wird Gottesdienst gefeiert. Auch das ist eine schöne Regel. Wer kommt feiert mit und ist nicht beobachtender Besucher. 

Abraham trifft Melchisedek - Von Dieric Bouts,the older. At The Church of Saint Peter, Leuven, Belgium - http://www.heiligenlexikon.de/Fotos/Abraham-Melchisedek.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=597499


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