Donnerstag, 28. März 2019

Gemeinsam unter einem Dach - Eine Nacht in der Grabeskirche

Schließungszeremonie in der Grabeskirche
Der harte Klang des metallenen Türklopfers klingt durch die Grabeskirche in Jerusalem und fordert die Besucherinnen und Besucher auf, diese nun bitte zu verlassen. Ich bleibe. Zusammen mit zehn weiteren nächtlichen Gästen sowie den Priestern und Diakonen, die jede Nacht in der Grabeskirche beten, werde ich von der Schließung der Kirche um 19.00 Uhr bis zur Öffnung um 4.00 Uhr in der Frühe Zeit zum Gebet haben. Und Zeit zur Stille. Dachte ich zumindest. Doch dazu später mehr.

Die Grabeskirche, die nach alter Tradition unter einem Dach heute die Kreuzigungsstätte Golgatha und mit dem Grab den Ort der Beisetzung Jesu vereint, gilt vielen Christen als heiligster Ort ihres Glaubens. Zur Zeit Jesu vor den Stadtmauern Jerusalems gelegen erfolgte an dieser Stelle die Auferstehung Jesu. Deshalb wird sie auch in der Orthodoxen Christenheit Anastasis (= Auferstehung) genannt. Am Grab verwandelte sich Trauer in unfassbares Staunen, das zur Freude werden sollte. Eine Auferstehungsfreude, die Menschen seit 2000 Jahren neue Kraft und Lebensmut gibt.



Grundriss, Quelle Wikipedia (s.u.)
Zusammen mit zwei Pfarrkollegen, einer Studentin der Theologie und einer Schülerin bin ich auf Einladung der armenischen Kirche in dieser Nacht in der Grabeskirche. Vier armenische Priester und Diakone werden in dieser Nacht Dienst haben und um 23.30 und um 3.30 Uhr zusammen mit uns Gottesdienst feiern.

Vor meinen persönlichen Erfahrungen einige Worte, an was für einen Ort wir in diesem Blog gelandet sind:
Insgesamt sechs Konfessionen verwalten die Holy Sepulchre, wie sie in Jerusalem zumeist genannt und ausgeschildert wird
Querriss, Quelle Wikipedia (s.u.)
Neben den armenischen Christen sind es federführend die griechisch-orthodoxen und die römisch-katholischen, vertreten durch die Franziskaner, die auch in der Nacht zum Gebet dort wachen. Im 19. Jahrhundert kamen die Koptische Kirche Ägyptens, die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien und die Orthodoxe Tewahedo-Kirche der Äthiopier dazu. Diese Kirchen erhielten nur wenige Kapellen zugestanden, und die Äthiopier sind sogar auf das baufällige Deir-al-Sultan-Kloster auf dem Dach beschränkt. Evangelische Glaubensrichtungen sind in der Kirche nicht präsent. Die Deutsche EKD-Auslandsgemeinde hat aber zusammen mit arabisch- und englischsprachigen Lutheraner mit der Church of the redeemer / Erlöserkirche in unmittelbarer Nähe eine wunderschöne Kirche, in der ich viel in den letzten Wochen am Gemeindeleben teilgenommen habe. 

Die Grabeskirche wurde nach 325. Chr. von Helena, der Mutter des byzantinischen Kaisers Konstantin, errichtet. Diese fromme und zum Christentum bekehrte Frau hatte in Jerusalem die Stätten von Tod und Auferstehung Jesu Christi unter einem römischen Tempel der Venus aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. aufgespürt, der wohl zu dem Zweck errichtet war, den zuvor von Christen seit dem 1. Jahrhundert verehrten Ort aus dem Gedächtnis auszulöschen. Helena erweckte die Erinnerung an den Ort, was der Kirchengeschichtler Eusebius mit der Auferstehung Jesu als erneutes Wiederaufleben verglich. Im Verlauf des Byzantinischen Zeitalters und zur Zeit der Kreuzfahrer wurde sie wiederholt zerstört und wiederaufgebaut. Ihr gegenwärtiges Aussehen erhielt sie zur Zeit der Kreuzfahrer. Sie waren die ersten, welche die Stätten der Kreuzigung und des Begräbnisses unter einem Dach vereinten, so wie es noch heute ist. Die 800 Jahre alte Eingangsfassade der Kreuzfahrer ist prunkvoll verziert. Am Eingang stehen zwei massive Holztore, von denen eines seit der Herrschaft Saladins im 12. Jahrhundert verriegelt ist. Durch die vielen Zerstörungen und Umbauten ist vieles ursprüngliche verloren gegangen. Unter Wissenschaftlern gilt der Ort jedoch als der, der Golgatha und dem Grab am nächsten kommen, auch wenn es mit dem nahen Gartengrab eine alternative Stätte gibt, die atmosphärisch näher an der biblischen Beschreibung wäre.

Legendär sind die in der Vergangenheit heftig geführten Meinungsverschiedenheiten über die Ansprüche der verschiedenen Denominationen in der Kirche. Die Schlüssel zur Kirche werden deshalb von der moslemischen Familie Joudeh verwahrt. Das zweite Holztor, das heute Zutritt gewährt, wird jeden Tag durch einen Vertreter der moslemischen Familie Nusseibeh geöffnet und geschlossen. Dieser Brauch gehört zum gegenwärtigen „Status quo“ der Grabeskirche aus dem Jahr 1852, der auf die damalige moslemische Herrschaft in der Stadt und bis auf die Tage Saladins zurück geht. Die israelischen Behörden beließen diese festgesetzte Aufteilung des status quo, nachdem die Altstadt nach dem Sechstagekrieg 1967 unter ihre Verwaltung gekommen war.


Die Leiter wird hereingereicht
Noch einmal wird der metallene Türklopfer betätigt. Die letzten Betenden verlassen die Kirche. Einige israelische Polizistinnen und Polizisten schauen wie jeden Abend nach dem Rechten und erkundigen sich bei den anwesenden Priestern wie viele Menschen in der Kirche bleiben. Es ist eine freundliche Atmosphäre, man scheint sich zu kennen. Auch das gehört zum Alltag in diesem Land und dieser Stadt.


Dann schließen sich die Tore und werden von außen verriegelt. Da sich der Riegel recht hoch an der Tür befindet, wird dazu eine Leiter benötigt, die nach der Verriegelung durch eine Luke in die Kirche hineingereicht wird. Nachdem auch diese und die Tür von Innen verschlossen ist, verteilen sich alle an der Tür wartenden Gäste und Diensthabenden in der Kirche.
Es folgt eine Zeit des Aufräumens und des Reinigens. Vor der armenischen Sakristei, an dem Ort an dem Maria in Ohnmacht gefallen sein soll, kratzt ein armenischer Diakon Wachsreste vom Boden. Auch wir als Gäste der armenischen Kirche werden gefragt, ob wir helfen wollen. Wir wollen selbstverständlich und bekommen Besen und Kehrblech gereicht und beginnen, den Boden zu fegen, über den am Tag Tausende von Besucherinnen und Besucher gegangen sind.


Die Reinigung der Kirche ist ein schönes Sinnbild für die Reinigung der Seele, erzählt uns Father Vazgen, der für uns zuständige Priester. Zwischendurch ruft er uns ins heilige Grab, in dem einer der Diakone gleichzeitig die Dochte der armenischen Kerzen erneuert und die Lampen mit neuem Öl füllt, eine aufwändige Angelegenheit, denn die unter der Decke hängenden Lampen müssen dazu heruntergelassen werden. Hier ist alles präzise und paritätisch unter den armenischen, griechisch-orthodoxen und römisch-katholischen Traditionen, die hier hier zelebrieren aufgeteilt. Alle haben die gleich Anzahl an Kerzen, in jedem der drei Bereiche steht ein Blumenstrauß.
Die Grabeskapelle, auch Ädikula genannt, ist eine aus Stein und Holz gebaute etwa 300 Jahre alte Kapelle über dem Grab. Sie liegt direkt unterhalb des Doms, der Rotunde, durch deren rundes Fenster normalerweise das Tageslicht eindringt.

Das Licht der nun neu in der Kapelle hergerichteten Lampen in der Grabeskapelle erinnert an ein Wunder, erzählt uns der armenische Geistliche vor dem Grabstein Jesu stehend. Vor Jahrhunderten erlebte ein Eremit nach sieben Jahren Gebet, dass sich vor seinen Augen von selbst Kerzen am Grab entzündeten. Seitdem geschehe dieses Wunder jedes Jahr auf neue am Karsamstag. Ich bin neugierig und lese später nach und entdecke eine uralte Tradition, von der ich zu meinem Erstaunen noch nie etwas gehört habe. Ausführlich beschreibt Niels Christian Hvidt, ein aus Dänemark stammende Professor der Theologie und Gesundheitswissenschaften, die Hintergründe in einem Bericht, von dem ich hier nur einen Auszug zitiere: „Das Wunder lässt sich durch die Jahrhunderte in den vielen Reiseberichten des Heiligen Landes verfolgen. Der russische Priester Daniel beschreibt das "Wunder des heiligen Feuers" und die es umrahmenden Zeremoniensehr detailliert in seiner Reisebeschreibung aus den Jahren 1106/07. Er erinnert sich darin, wie der Patriarch die Grabeskapelle (Anastasis) mit zwei nicht brennenden Kerzen betritt. Er kniet vor dem Stein auf den Christus nach seinem Tode aufgebahrt wurde und sagt bestimmte Gebete, worauf das Wunder geschieht. Licht geht aus dem Inneren des Steines hervor - ein blaues, undefinierbares Licht, dass nach einiger Zeit Öllampen, sowie die zwei Kerzen des Patriarchen entzündet. Das Licht ist "das Heilige Feuer" und breitet sich zu allen Menschen, die sich in der Kirche aufhalten, aus. Die Zeremonie um "Das Wunder des Heiligen Feuers" ist wohl die älteste, unverändert praktizierte christliche Zeremonie in der Welt.“ Weiteres, auch ein Interview mit dem 1998 amtierenden und das Licht empfangenden griechisch-orthodoxen Patriarchen Diodorus I., findet sich auf der Internetseite, der ich diesen Auszug entnommen habe (holyfire.org).
Die Grabeskapelle
Es ist schon etwas unwirklich, so viel Zeit am Grab und in der kleinen Angeluskapelle vor dem Grab (Angelus, weil dort die Engel den Frauen und Petrus erschienen) zu verbringen. Besucherinnen und Besucher müssen sonst bis zu mehreren Stunden unter dem wunderschönen Rund der Rotunde anstehen, um nur eine Minute am Grabstein zu verbringen. Wir dagegen stehen hier in Ruhe und reden miteinander, während der Diakon sich um die Kerzen kümmert.
Dabei erzählt uns Father Vazgen zum Bespiel, dass bei der Renovierung der Kapelle im Jahr 2016 der marmorne Grabstein abgenommen und geschaut wurde, was sich darunter befindet. Dabei wurden auch Messungen vorgenommen und festgestellt, dass es an diesem Ort elektrische oder magnetische Schwingungen gab, die man sich dort nicht erklären kann. Für mich als evangelischen Christen ist diese Welt fremd. Ich höre mit großem Interesse zu und lasse aber mich gerne darauf ein.
Unser Gesprächspartner nimmt sich viel Zeit für uns, das ist an diesem Abend unerwartet und ein sehr schönes Erlebnis. So erfahren wir etwas über die 1700 Jahre lange Präsenz der armenischen Kirche in Jerusalem, über das Wesen des Menschen, der sich allzu häufig weit entfernt von seiner Bestimmung befindet (Zitat: Als ob der Autopilot eines Flugzeuges defekt wäre), über Wunder durch die Kraft des Glaubens am Grab Jesu und reden auch über das Zusammenspiel der Konfessionsfamilien, die sich die Grabeskirche teilen. Ein nicht immer einfaches Unterfangen, weil jede Gemeinschaft sich entfalten und nicht zurück stellen möchte, erfahren wir. Und er muss es wissen. Seit 20 Jahren verbringt er 11 von 12 Monate im Jahr jede Nacht in der Kirche. „Was eint die Christen an diesem Ort“, frage ich. Father Vazgen verweist mit einer Handbewegung und einem Lächeln auf das Grab Jesu. Jahrzehntelang konnte man sich nicht über eine Renovierung einigen. Zwar auf Druck jüdischer Offizieller, weil sonst die Grabeskapelle wegen Baufälligkeit geschlossen werden müsste, aber dann doch in Einheit ist es schließlich gelungen. Die Einigung im Rahmen der Sanierung ist sinnbildlich für die Einheit der Christenheit. Tod und Auferstehung Jesu stehen im Mittelpunkt des christlichen Glaubens. Wenn es darauf ankommt, sind sie das Fundament des gemeinsamen christlichen Glaubens. Im Gespräch macht unser Gesprächspartner deutlich, wie er sich persönlich noch mehr sichtbare Einheit für die Zukunft wünschen würde, zum Beispiel durch gemeinsame Gebete. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass sich in diesem Land alle Frieden wünschen. Wie unzählige Male habe ich von Gesprächspartner an der Basis Offenheit für eine gute, gemeinsame Zukunft und den Willen zum gemeinsamen Leben wahrgenommen, egal ob politischer oder religiöser Natur. Es ist wohl nur schwer, wenn man sich in Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte alten Strukturen und Festlegungen befindet.

Golgatha - Die Schädelstätte (hell beleuchtet der Felsen)

Nach die intensivste Zeit in dieser Nacht werden. Ich sitze lange am Golgathafelsen, der gleich vom Eingang der Kirche über eine steile Treppe zu erreichen ist, in deren unebenen Stufen sich Millionen von Pilgertritte eingegraben haben. Auch anderen Stellen gebe ich Gelegenheit, auf mich zu wirken. In der Stille lasse ich meine Gedanken freien Raum, die so persönlich sind, dass ich sie hier nicht teilen kann und werde. Nur so viel sei gesagt: Ohne Touristen- und Pilgerströme wirkt der Ort ganz anders auf mich. 
Ich kann und will mich auch gar nicht dem Sog des Heiligen und geschichtsträchtigen Platzes entziehen, fange Worte auf, die mir in den Sinn kommenschreibe Gedanken auf.
Der Salbungsstein im Eingang der Kirche
Jenseits der Ablenkung des Alltags verdichtet sich hier mein Sinnen und Denken. Im Bewusstsein der Ereignisse, die hier vermutlich stattgefunden haben (und sei es auch nur in der Nähe dieser Stätte), bekomme ich einen ganz anderen Zugang zur Passions- und Auferstehungsgeschichte. Ich habe das Gefühl, dass Jesus neben mir sitzt. In mir spricht. Mit mir schweigt. Während ich sonst in unterschiedlichen Rollen z.B. als Studierender oder Reisender im Lande unterwegs bin, bin ich hier ganz Pilger.
Es ist nicht nur der Ort, der dies bewirkt. Es ist die qualitativ erlebbare Zeit, die vielleicht das wertvollste Geschenk des Lebens ist. In der Nacht spielt vieles keine Rolle mehr. Mein Leben als Pfarrer einer Kirchengemeinde ist so viel vom Alltag gefüllt, dass ich solche Momente viel zu selten erlebe. In den letzten drei Monaten war dies immer wieder möglich, über mein Erleben mit dem Shabbat habe ich ja bereits berichtet. In dieser Nacht erlebe ich erneut ein Hinausgenommensein aus Zeit und Raum. „Hier bin ich Mensch, hier kann ich sein“, dichtet Goethe in seinem Gedicht Osterspaziergang im Faust in Blick auf die Natur und den erwachenden Frühling. In dieser Nacht umgeben mich Steine und Geschichte, das Erlebnis ist aber vergleichbar, wenn auch in einem ganzen anderen Umfeld. Hier bin ich Mensch, hier kann ich sein. Oder: "Hier ist gut sein", wie es Petrus auf dem Berg der Verklärung ausdrückt.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht fangen die drei Konfessionen an ihre Mitternachtsliturgien zu feiern. Als Vorbereitung gehen Vertreter mit Weihrauchschwenkern zu den heiligen Stätten. Es wirkt auf mich wie eine gut eingeprobte Choreographie, die sich vor meinen Augen abspielt. Wenn auch in den folgenden Gottesdienstzeiten getrennt, so begegnet man sich hier beim Gang durch das Kirchgebäude, geht mir durch den Kopf. So verbindet der Raum und die gemeinsame Nutzung dann doch.
Während der armenische Gottesdienst in der armenischen Kapelle auf einer Empore und der römisch-katholische in der franziskanischen Kapelle mit Gesängen und Lesungen kurz nach Mitternacht enden, führen die griechisch-orthodoxen Priester ihren Gottesdienst im Heiligen Grab und im Katholicum, dem griechisch-orthodoxen Gebetsraum, bis um drei Uhr weiter. In den ersten Stunden lausche ich noch interessiert - mal in der Golgathakapelle sitzend, mal einen der vielen Gedenkorte wie den Salbungsstein Jesu, der Adamskapelle oder der Kreuzauffindungskapelle aufsuchend - den Gesängen und den Lesungen, die das ganze Kirchenschiff durchdringen, irgendwann wünsche ich mir aber dann doch die erlebte Stille wieder zurück, die mir vor Mitternacht so wertvoll wurde. Nur kurz zwischen dem griechisch-orthodoxen Gottesdienst und dem armenischen Gottesdienst am Grab, der um 3.30 Uhr beginnt, habe ich noch einmal einige wenige Minuten Zeit, vor dem Grabstein Jesu in der Grabeskapelle kniend für mich zu beten. Ich lege kein Tuch auf, um dieses mit der besonderen Energie dieses Ortes zu füllen, wie es manche Pilger tun. Ich kann das schon irgendwie nachvollziehen, weil man dadurch ja auch etwas vom Ort mitnehmen kann, wie ich meine Fotos mitnehmen werde, aber es ist nicht mein Zugang zum Glauben. Es entzündet sich auch kein Licht vor mir aus dem Nichts. Es geht mir aber ein Licht auf, dass es solche Momente der Stille und des Abgeschiedenseins viel zu wenig in meinem Leben gibt, obwohl sie mir doch so viel Kraft geben können.
Tageslicht fällt in die Rotunde (bei früheren Besuch)
Es ist in dieser Nacht nicht das erste Mal, dass ich die Grabeskirche besuche. Ich war öfter für kurze oder längere Zeit dort, aber diese Nacht ist anders. Sie ist unmittelbar. Direkt. So wie Glaube, Gespräch mit Gott und Spiritualität immer nur persönlich und direkt sein können und nicht stellvertretend von anderen für den Gläubigen.

Der jüdische Philosoph Martin Buber hat einmal gesagt, „Jede Religion ist ein Haus der nach Gott verlangenden Menschenseele, ein Haus mit Fenstern und ohne Tor; ich brauche nur ein Fenster aufzumachen, und Gottes Licht dringt ein.“ Das Grab und die Grabeskirche werden mir in dieser Nacht zum offenen Fenster, das ich geöffnet habe, indem ich mir Zeit dafür genommen habe und mich darauf einlassen habe. Unter einem Dach leben die Christen der verschiedenen Konfessionsfamilien. Jeder für sich und doch vereint in der unbegreiflichen Erfahrung, die dem Gläubigen und dem Suchenden geschenkt wird.

"Hier ist gut sein" ist die Erfahrung des Petrus auf dem Berg der Verklärung. Dort wollte er drei Hütten für Jesus und die in der Offenbarung erscheinenden Moses und Elia bauen. Jesus lehnte das ab. Berge der Verklärung und Heilige Orte mit den verbundenen Erlebnissen haben ihren Sinn, aber irgendwann heißt es dann doch vom Berg wieder ins Alltagsleben hinab zu steigen.
So ist dann auch kurz vor fünf Uhr morgens für mich Zeit, durch die schon längst geöffneten jahrhundertealten Kirchentüren der Grabeskirche wieder hinaus in das Morgengrauen und in den neuen Tag zu gehen. Nicht ohne eindrückliche Erfahrungen und mit Freude an der erlebten Gastfreundschaft, aber unter uns: Es wurde dann doch in den nicht beheizten Kirchräumen auch zunehmend etwas kalt.
BCU, 28. März 2019



Graphiken entnommen vom Wikipediaartikel Grabeskirche:

Querriss von commons.wikimedia.org/wiki/File:Golgotha_cross-section.svg" title="File:Golgotha cross-section.svg">Golgotha_cross-section.svg</a>: <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/User:Yupi666" class="extiw" 

Grundriss: Church of the Holy Sepulchre, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anastasia_Rotonda_sketch_1.svg



Sonntag, 24. März 2019

Was für ein (schönes) Land!!!

Liebe Freundinnen und Freunde,
in den letzten Wochen hatte ich Besuch aus der Heimat und war
von den waldreichen Hügeln des Karmel über das galiläische Bergland im Norden
über den Jordangraben bis hin zur Wüste Juda bis hin zum Negev im Süden viel im Land unterwegs.
Manche warten bereits auf weitere Beiträge. Sie werden kommen. Versprochen!
Ich schreibe bereits fleißig meine Gedanken über Land und Leute auf.
Herzliche Grüße,
Euer Christian

Freitag, 1. März 2019

„Wir weigern uns, Feinde zu sein“ - Friedenswege im Tent of nations

Der Farmhügel der Familie Nassar



Ein Weinberg auf der Farm
„We refuse to be enemies“. 
„Wir weigern uns, Feinde zu sein“. Mit diesen einen Satz kann man wohl die Philosophie der Familie Nassar zusammenfassen, die 9 km südlich-westlich von Bethlehem eine rund 42 Hektar große Farm mit Oliven- und Obstbäumen, Weinreben und einigen  Tieren besitzt. Das Land liegt malerisch rund 950 Meter über dem Meeresspiegel auf einem Berg. Vom Gipfel bis in die tief eingeschnittenen Täler ziehen sich die Anbauflächen. Das Land ist steinig, wer es bestellt hat viel Arbeit, den Boden zu bereiten. 

Auf den fünf Hügeln und Berghängen rundherum sind in den letzten Jahrzehnten jüdische Siedlungen und Einrichtungen entstanden. Für die weltoffene palästinensische Familie Nasser ist dies eigentlich kein Problem. Als evangelisch-lutherische Christen sind sie offen für ein friedliches Zusammenleben mit den neuen Nachbarn. Doch das wird den Nachbarn schwer gemacht und dazu trägt auch bei, dass die israelischen Behörden nicht zu einer Entscheidung über den für Außenstehende klaren Fall kommen. 28 Jahre lang befindet sich Familie Nasser bereits im Rechtsstreit mit dem Staat Israel. Das Land, das ihrer Familie seit dem Jahr 1916 gehört und sich in der C-Area der Autonomiegebiete befindet, sollte 1991 verstaatlicht werden. Dabei gehört das Land urkundlich erwähnt seit der osmanischen Zeit der Familie. Daher Nassar, der Großvater der heutigen Nasser-Generation, hatte es damals gekauft und mit seiner Familie bezogen. Die englische Mandatsbehörde hatte nach dem Ende osmanischen Herrschaft die Eigentumsverhältnisse bestätigt, später die jordanische und selbst die israelische Verwaltung nach 1967. Der Fall ist urkundlich bestens dokumentiert. Dennoch steht eine Entscheidung aus.

Hinzu kommen immer wieder Ein- bzw. Übergriffe auf das Land. Jüdische Siedler zerstörten in einer Aktion gegen die Farm 250 Olivenbäumen. Von solchen Attacken höre und lese ich fassungslos in diesen Wochen. Den jüdischen Zeitungen entnehme ich, dass diese unter "price tag" benannten Aktionen selbst für Israelis peinliche Vorfälle sind. Für die betroffenen Palästinenser und auch diejenigen, die davon hören offenbart dies die menschenverachtende Seite der Okkupation der unter dem Oslovertrag vereinbarten palästinensischen Autonomiegebiete. Ein weiterer Vorfall geschah am frühen Morgen des 19. Mai 2014. An diesem Tag planierten Bulldozer der Israeli Defense Forces (IDF) zwei Wochen vor der Ernte 1000 Aprikosen und Apfelbäume sowie Weinreben des familiären Farmlandes. Die mühsame Arbeit von 12 Jahren wurde in ein bis zwei Stunden zerstört. Zweimal wurde versucht auf dem Besitz der Familie ohne Erlaubnis eine Straße zu bauen.
Immer wieder gaben die israelischen Gerichte Familie Nassar Recht, wenn sie gegen die Eingriffe auf ihr Farmland klagten. Eine Entschädigung wurde bis heute nicht gezahlt. 150Tsd USD Gerichtskosten mussten dabei aufgebracht werden. Eine Summe, die nur durch internationale Unterstützung beglichen werden konnte.
Nach der Zerstörung der 250 Olivenbäume hat eine jüdische amerikanische Organisation, die sich für Gewaltfreiheit einsetzt, für die neue Bepflanzung des Farmlandes der palästinensischen Familie gespendet. Solche Geschichten ermutigen.

Einführung auf dem Berggipfel
Farmbesitzer Daoud Nassar begrüßt unsere Gruppe, die aus rund 40 Volontären verschiedener Einrichtungen und weiterer Interessierten besteht, und erzählt uns die Geschichte seiner Familie. Dabei spürt man bei aller Ruhe und Besonnenheit, die er ausstrahlt, den Schmerz über Erlebtes: „Wir betrachten die Pflanzen wie eigene Kinder“, erklärt er uns. Und: „Wer sich mit Landwirtschaft auskennt weiß, dass Pflanzen in dieser Höhenlage
Farmer Daoud Nassar 
nur 
langsam wachsen. Olivenbäume benötigen zehn Jahre bis sie richtig Frucht tragen“. 
Er macht aus seinem Unverständnis kein Geheimnis, Auch, dass das Land durch den fehlenden Gerichtsbescheid von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten ist und keine Baugenehmigungen erteilt werden, sind Ärgernisse und Erschwernisse. Noch nicht einmal für die Zelte, in denen die Volontäre, die von März bis zur Ernte im Herbst bei den Programmwochen auf dem Berg leben. Neben dem grundsätzlichen Rechtsstreit stellen sich noch andere Herausforderungen: So wurde die Hauptzugangsstraße zur Farm aus Sicherheitsgründen abgeriegelt. Wir mussten als Besucher auf dem Weg über einen Schutthaufen steigen, um das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Familie Nassar hätte allen Grund, zu verzagen oder zu hassen oder gar mit Gewalt zu reagieren, wie es manche Palästinenser in den okkupierten Gebieten als einzigen Weg ansehen. Aber alle diese Wege lehnt Familie Nassar ab und hat eine eigene Philosophie entwickelt, die uns Daoud Nassar vorstellt, und an der im Rahmen des Projektes Tent of nations gearbeitet wird, das in den letzten Jahren als Reaktion auf das Erlebte hier entstanden ist.
Der Slogan des Tent of nations
Auf der Homepage findet sich eine Zusammenfassung der Idee:
At Tent of Nations, our mission is to build bridges between people, and between people and the land. We bring different cultures together to develop understanding and promote respect for each other and our shared environment.
To realise this mission, we run educational projects at Daher’s Vineyard, our organic farm, located in the hills southwest of Bethlehem, Palestine. Our farm is a center where people from many different countries come together to learn, to share, and to build bridges of understanding and hope.
(Tent of Nations Aufgabe ist es, Brücken zwischen Menschen und zwischen den Menschen und dem Land zu bauen. Wir bringen verschiedene Kulturen zusammen, um Verständnis und den Respekt für einander zu entwickeln, und unsere gemeinsame Umgebung zu fördern. Um diese Mission zu verwirklichen, betreiben wir Bildungsprojekte auf unserem Biobauernhof Daher´s Vineyard, in den Hügeln südwestlich von Bethlehem, Palästina. Unsere Farm ist ein Zentrum, in dem Menschen aus vielen verschiedenen Ländern zusammenkommen, um zu lernen, zu teilen und Brücken des Verständnisses und der Hoffnung zu bauen.)


Vier Grundsätze sind ihm dabei wichtig:
1. We refuse to be victims  (Wir lehnen es ab, Opfer zu sein)
2. We refuse to hate (Wir lehnen es ab, zu hassen)
3. The Christian way is no violance (Der christliche Weg ist gewaltfrei)
4. We believe in justice (Wir glauben an Gerechtigkeit)

Glaube, Liebe und Hoffnung sind für die Familie Nasser dabei die christlichen Grundlagen für ihr Denken und Handeln, erklärt uns Daoud seinen Ansatz.
Und dann äußert er einen Satz, der mich eher an fernöstliche Weisheiten erinnert und mir noch lange an diesem Tag nachgehen wird: „We try to channel our pain into positiv energy“ (Wir versuchen unseren Schmerz in positive Energie zu kanalisieren). Und das scheint zu gelingen. Für alle Herausforderungen wurden bisher Lösungen gefunden. Für die Bewässerung wurden immer mehr Wasserspeicher angelegt. Durch die finanzielle Unterstützung des Grünhelme e.V. wurde eine Solaranlage gebaut, die das Gelände unabhängig mit Strom versorgt. Gelebt wird in 11 Höhlen, die mit den Jahren ausgebaut wurden.

Dem Farmer Daoud ist anzumerken, dass dies seine Mission ist. Es geht schon längst nicht mehr nur um die Erhaltung der Farm als landwirtschaftlichen Betrieb. Durch die Einschränkungen gelingt es bis heute nicht, die Farm wirtschaftlich selbsttragend zu bewirtschaften. Das ist zwar das erklärte Ziel, aber hinzu kommt inzwischen ein bedeutsameres: Den vierten Weg zu finden und zu gehen.
Weder der Weg der Gewalt noch der Weg über Verhandlungen haben Erfolg für die palästinensische Sache gebracht. Da sich der Weg der Resignation verbietet, geht die Familie Nassar auf dem vierten Weg, den Weg der Liebe, des Glaubens und der Hoffnung. Ein Weg, von dem nicht klar ist, ob er erfolgreich sein wird, der für die gläubigen Christen der einzig gangbare ist.
Mit dem vierten Weg ist die Hoffnung verbunden, die andere Seite durch ein ungewohntes Handeln in gewisser Weise zu verwirren und von den bisherigen Denkmustern abzubringen.

Dazu gehört auch, über den Ansatz und die Philosophie dieses Weges zu berichten und ihn weltweit bekannt zu machen. Rund zehntausend Besucher konnte das Tent of nations im Jahr 2018 als Gäste begrüßen. Weltweit wurde das Projekt dadurch bekannter, dass es am 21. November 2018 den Deutsch-Französischer Preis für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verliehen bekommen hat.
„Tent of Nation“ bedeutet „Zelt für die Völker“. Gemeinsam wird bei den Programmen gelernt, sei es durch gemeinsame Arbeit auf der Farm, durch künstlerische Projekt, in einem woman center oder durch Begegnungen. Eine Zukunftsvision ist es, auf dem Gelände eine Schule zu gründen. 

Vielleicht können nur Farmer, die über Jahre und Jahrzehnte ihr Land bestellen und sich nicht von kurzfristigen Entwicklungen aus der Ruhe bringen lassen dürfen, so besonnen reagieren. Vielleicht ist es aber auch Daouds persönliche Erfahrung im Ausland, die ihn an eine gerechte Welt auch für und in seiner Heimat glauben lassen. Er ist auf diesem Land groß geworden und ist, nachdem er u.a. in Deutschland studiert hat, zurückgekommen, um hier zu bleiben. Das Land und seine Familie sind seit 100 Jahren miteinander verbunden. Immer wieder höre ich von palästinensischen Gesprächspartner wie wichtig das für sie ist: Ihre Identität ist häufig verbunden mit dem Dorf, den Verwandten, dem Haus in dem sie wohnen.
Daoud vermutet, dass es den Siedlern auf dem nächsten Berggipfel, die in der zweiten Generation auch schon in der Gegend leben, genau so geht. Es geht ihm nicht darum, dass die Siedlungen auf dem palästinensischen Gebiet aufgelöst werden. Darunter unterscheidet er sich von manchen Hardlinern, die ein Palästina ohne jüdische Siedlungen wollen. Es geht ihm um ein friedvolles Zusammenleben, um Equality (Gleichberechtigung) und das Ende der Okkupation. Das Problem ist politisch, meint er. Die Menschen in der Bevölkerung sehnen sich nach Frieden, nach Selbstbestimmung und Freiheit. 


Die Unterstützung durch Menschenrechtsorganisationen und die hergestellte Öffentlichkeit gaben ihm und seiner Familie in den letzten vier Jahren eine kleine Verschnaufpause. Vor diesem Hintergrund lädt er sicher auch mit den Worten des Philippus ein, sich selbst ein Bild zu machen. „Komm und sieh“, hatte dieser zu Nathanael gesagt, als dieser von der Sache des Predigers Jesu gehört hat. "Komm und sieh", lädt er dann auch zum Ende unserer Gesprächsrunde ein.
Zusammen mit den freiwilligen Besuchern wird dann nun beim „Kommen und Sehen“, ganz praktisch auf dem Land gearbeitet. Auch wir als Gruppe bereiten an diesem Tag ein Feld, befreien es von Steinen und bauen daraus eine Stützwand, roden Dornenbüsche und pflanzen 45 Olivenbäume. Es ist auf dem am Hang gelegenen Feld eine harte Arbeit. Daoud ist mittendrin und ist mal hier mal da, um zu zeigen wie tief die Löcher sein müssen und wie man am Besten für die Bewässerung eine kleine Mulde anlegt. Auch an die wilden Hirsche, die es in der Umgebung gibt, denkt er, legt zum Schutz etwas von den gerodeten Dornbüschen um den kleinen Stamm und beschwert diese mit einem Stein. 

Frisch gepflanzter Olivenbaum
Ich frage mich, ob ich meinen zusammen mit meinem Pfarrkollegen Andreas gepflanzten Olivenbaum in einigen Jahren Früchte tragend sehen werde? Die Zukunft wird es zeigen. Und vielleicht tragen ja auch die Friedensbemühungen des vierten Weges der Verständigung Früchte. Den Bewohnern dieses Landes, das so wunderschön ist, dass sie alle dort wohnen wollen, ist dies zu wünschen. 
BCU, 28.02.2019






Gemeinde und Kirche in einer interkulturellen Welt - Reflexion ekklesiologischer Dynamiken im Rahmen eines Studiensemesters in Jerusalem

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